Zurück in den Hinterhof? - Zum Ausgang der Wahlen
in Brasilien
von WOLF GAUER, São Paulo, 27. Oktober 2014
Die forcierte Chaotisierung in Osteuropa und im
Nahen Osten mindert die Wahrnehmung Lateinamerikas, auch der Wahlen in Brasilien
und ihrer besonderen Bedeutung für den südamerikanischen Subkontinent.
Der brasilianische Marxist und Soziologe Emir Sader
spricht Klartext: „Diese Wahlen (...) entscheiden, ob das Land weiterhin ein
großer Partner Lateinamerikas und des globalen Südens bleibt, oder ob es wieder
in den Status eines US-Satelliten zurückfallen wird“ (Portal Alba, 17.9.14,
Übs. W.G.).
Siegerin nach Kopf-an-Kopf-Rennen: Die Amtsinhaberin Dilma Rousseff hat die
Präsidentschaftswahl in Brasilien knapp gewonnen.
Eine Rückkehr in den Hinterhof des Imperiums bleibt
Brasilien für weitere vier Jahre erspart. Präsidentin Dilma Vana Rousseff,
Kandidatin der Arbeiterpartei (PT), wurde am 26. Oktober im zweiten Wahlgang
wiedergewählt. Mit dem knappen Vorsprung von 3,28 Prozent in einer bis zur
letzten Minute ungewissen Stichwahl. Nach einer bislang ungekannten
Schlammkampagne vonseiten der traditionellen Oligopole und ihrer Konzernmedien
und mit denselben Desinformationstricks wie längst in Deutschland üblich.
Rousseffs Gegner war der Sozialdemokrat Aécio Neves da Cunha, der Mann des
Kapitals, der urbanen Zentren und der globalen Interessen der USA.
Der erste Wahlgang am 5. Oktober war ruhig und
korrekt verlaufen, sowohl bei uns in São Paulo, wie im fernen Amazonien. Und
mit Wahlfälschung wartet Brasilien im Gegensatz zu den USA ohnehin nicht auf.
202 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte aller Südamerikaner, leben in
Brasilien. Mit jährlich 2324 Mrd. US-Dollar erbringen sie gleichermaßen die
Hälfte der südamerikanischen Wirtschaftsleistung. 142 Millionen Wahlpflichtige
mussten in diesem Monat ihre Abgeordneten in den Bundes- und Länderparlamenten
wählen, auch den Präsidenten und die Gouverneure der 27 Bundesländer. Nach den
Erfolgen dreier aufeinanderfolgender Regierungsmandate der Arbeiterpartei (PT),
die rund 22 Mio. Brasilianer aus dem Stadium extremer Armut befreien konnte,
war selbst eine Wiederwahl der Regierungschefin im ersten Wahlgang nicht
auszuschließen. Mit 41,59 Prozent erzielte sie aber nicht die erforderliche
absolute Mehrheit – und dies aufgrund unvorhergesehener Ereignisse vom 13.
August:
Am verregneten Morgen jenes Tages stürzte in der
Hafenstadt Santos ein Cessna-Kleinjet ab. Niemand überlebte. Auch in diesem
Fall blieb die Blackbox stumm – ob trotz oder wegen einer hastig aus den USA
angereisten „Expertenkommission“ bleibt offen. Prominentes Opfer des Absturzes
war Eduardo Henrique Accioly Campos, Vorsitzender und Präsidentschaftskandidat
der sozialdemokratischen
Der Reihe nach: Ausnahmsweise nicht im
Unglücksflieger saß Marina Silva, Eduardo Campos’ Stellvertreterin im Parteivorstand
und damit auch dessen Vizekandidatin in der Präsidentschaftswahl. Als solche
erreichte sie im ersten Wahlgang den dritten Platz mit 21 Prozent nach Aécio
Neves (35 Prozent). Als Dritte von der Stichwahl ausgeschlossen, forderte Silva
ihre Wählerschaft auf, zu dem neoliberalen Neves (die Financial Times
charakterisiert ihn als „pro-business“) überzulaufen, dem damit beste Chancen
zur Ablösung von Dilma Rousseff in den Schoß fielen. Ein Blick auf die
Geschichte der Marina Silva (56), einer unbestritten tapferen Brasilianerin,
die erst mit 16 Jahren lesen und schreiben lernte, mag die spezifischen
Ungereimtheiten und Unwägbarkeiten der jungen brasilianischen Demokratie etwas
verständlicher machen.
Als eines der elf Kinder eines „seringueiro“
(Kautschuksammler) im extremen Westen Brasiliens, entstammt Silva (geb. 1958)
allerärmsten, doppelt marginalisierten Verhältnissen, die erst nach der
Militärdiktatur (1985) sozialpolitisch erfasst und thematisiert wurden, u.a.
von Vertretern der Befreiungstheologie. Mit fünfzehn schwer erkrankt, bringt
sie der engagierte Bischof Moacyr Grechi bei Ordensschwestern unter, denen sie
sich zunächst anschließen will. Doch 1982 ist sie schon diplomierte
Historikerin, Mitglied des kommunistischen Bundes PRC, der Arbeiterpartei und
Gewerkschaftsleiterin. Ihr legendärer Mitkämpfer Chico Mendes wird 1988 von
Großgrundbesitzern erschossen. Silvas steile Karriere hält an: Charismatische
Kommunalpolitikerin, Landtagsabgeordnete ihres Amazonas-Staates Acre, den sie
mit 36 Jahren als jüngstes Senatsmitglied aller Zeiten in Brasilia vertritt.
Präsident Lula – der erste Regierungschef der
Arbeiterpartei – holte 2003 die vielseitige Superkraft ins Umweltministerium.
Kollisionen mit den Interessen der Großagrarier, der Industrie und der wachstumsorientierten
Agenda des Lula-Kabinetts waren damit vorprogrammiert. Auch mit der damaligen
Energie- und späteren Innenministerin namens Dilma Rousseff beim Tauziehen um
nachhaltige oder kapitalorientierte Umweltpolitik. Silva gab auf und wechselte in
die Grüne Partei (PV). Als deren Präsidentschaftskandidatin riskierte und
verlor sie die Wahlen von 2010; gewählt wurde ihre pragmatische Widersacherin,
die Wirtschaftsfachfrau Dilma Rousseff, gegen die sie nun wiederum (anstelle
des verunglückten Campos und schon im ersten Wahlgang) scheiterte.
Weniger kohärent aber umso aufschlussreicher ist Marina Silvas innere, ideelle
Entwicklung. Nach dem Geschichtsstudium belegt sie Theorie der Psychoanalyse
und Psychopädagogik; seit 1998 gehört sie der Pfingstlersekte „Assembléia de
Deus“ („Versammlung Gottes“) an, die in Brasilien rund 14 Millionen Gläubige
gängelt, natürlich auch bei Wahlentscheidungen. Kreationismus, die Suprematie
der Bibel in allen Fragen. Nach eigener Aussage ist Silva seit 2004 auch
„Missionarin“ ihrer Sekte, folgt göttlichen Weisungen und regelt wichtige
Fragen per „Bibelroulette…. Auch als Präsidentschaftskandidatin berät sie sich
regelmäßig mit ihren Pastoren, was die Wähler beeindruckt: Rund 45 Millionen
Brasilianer nämlich, obwohl katholisch getauft, hängen evangelikalen Sekten an,
deren zirkusreife Rituale und „Wunder“ in ehemaligen Kinos, Radio und Fernsehen
inszeniert werden. Brasiliens multikultureller Mystizismus und die noch immer
ungleiche Schulbildung mögen das erklären. Wenn Silva nun als ehemalige
Kommunistin und Gewerkschaftlerin den Kandidaten der Oligopole unterstützt,
dann ist das halt Gottes Wille. ..Was stand bei der Stichwahl auf dem Spiel?
Aécio Neves forderte – und die übermächtigen bürgerlichen Medien unterstützten
ihn – „weniger Staat“, vor allem im fiskalischen und sozialen Bereich. An
erster Stelle die Einrichtung einer nicht-weisungsgebundenen Zentralbank und
„Ordnung mit eiserner Hand“ – letztere wohl auch nötig nach der grundsätzlich
anvisierten sozialen Demontage. Neves propagierte auch Brasiliens Ankopplung an
die nordamerikanischen Bündnis- und Freihandelspakte; Mercosur, Unasur und die
übrigen Fixpunkte lateinamerikanischer Identität und Solidarität wären damit
Geschichte. „F..k Venezuela“ und „Ebola für Dilma“ forderten die schicken
„Kaschmir-Demonstrationen“ (The Economist) der Neves-Anhänger, bei denen nur
noch der Champagner gefehlt habe.
Rafael Correa Delgado, Präsident von Ecuador,
konstatierte längst eine „konservative Restauration“, die ganz Lateinamerika
bedrohe. Hätte sie in Brasilien gesiegt, wären über kurz oder lang sozial
fortschrittliche Staaten wie Venezuela, Ecuador, Bolivien, Argentinien und
Uruguay betroffen, auch ein erheblicher Teil der übrigen Welt. Ohne Brasiliens
aktive Rolle im BRICS-Verband wäre dessen geopolitisch bedeutsame Opposition
und Konkurrenz gegenüber dem Hegemon USA deutlich geschwächt. Dilma Rousseffs
so geharnischte wie unbequeme Proteste in der
Etwa 10 Minuten nach dem endgültigen Wahlergebnis
und in der noch gelähmten Stille meiner Mittelstandsstraße sagte mir ein junger
Mann ganz unvermittelt: „Gott hat gemerkt, dass Brasilien Dilma braucht“ – und
klappte sein Handy zu.
Der Beitrag erschien in gekürzter Form in Ossietzky
- Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft.
Quelle: http://www.hintergrund.de/201410273294/politik/welt/zurueck-in-den-hinterhof.html