Plädoyer für einen Neuanfang der Beziehungen Wir verlieren Russland
von
Martin Hoffmann
Schluss
mit den Sanktionen! Russland muss wieder als Partner des Westens geachtet und
akzeptiert werden. Russische Bürger müssen spüren, dass sie in Europa
willkommen sind. Ein Gastbeitrag.
Dies ist ein Weckruf. Ein Weckruf an all jene
in der Politik, die schlafwandelnd auf die Überlegenheit des Westens vertrauen. An
diejenigen, die davon überzeugt sind, der Westen müsse endlich Stärke zeigen
und seine Sanktionen verstärken. Auch an jene Ostpolitiker mit Augenmaß, die
auf den Dialog setzen, aber überzeugt sind, ein Krieg sei ausgeschlossen und am
Ende werde die Vernunft siegen. - Der Ruf kommt von jemandem,
der weder „links“ noch „rechts“ steht und der nicht den Anspruch hat,
Russland oder gar Putin verstehen und erklären zu können. Ich habe als
Westdeutscher in den Zeiten des Kalten Krieges Slawistik studiert und arbeite seit fast 25
Jahren für und mit der russischen Zivilgesellschaft.
Mit Menschen also, die sich in der Gesellschaft für
gemeinsame Interessen in Kultur, Umwelt, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft
engagieren.
Der Weckruf lautet: Wir verlieren
Russland! Nicht nur die Führungselite rund um den
Präsidenten Putin, nein, ein ganzes
Volk, ein großes
europäisch denkendes Volk. Ein Volk, das Europa insgesamt und Deutschland insbesondere schätzt, ja ihm bisweilen bewundernde Hochachtung zollt –
trotz der Erfahrungen zweier Weltkriege und eines Kalten Krieges. Ein Volk, das
als Befreier Deutschlands vom Faschismus entscheidend dazu beigetragen
hat, dass wir Deutsche heute wieder in Einheit
und Freiheit leben dürfen. Eine Nation wendet sich ab, die stets gehofft hatte, einmal im
Westen anzukommen, als Partner geachtet und
akzeptiert zu werden.
Niemand soll später sagen, man habe nichts gewusst
oder bemerkt: Die Situation heute ist anders, aber
keinesfalls besser als im Kalten Krieg. Ich jedenfalls habe in den achtziger
Jahren niemals solche emotionale Verletztheit und
Desillusionierung erlebt. Die große Mehrheit
der russischen Bevölkerung fühlt sich nicht gehört und nicht verstanden. Die Menschen sind vom Westen enttäuscht, und sie
wollen nicht mehr die ewigen Verlierer sein.
Gerade
die oft liberalen Eliten zeigen sich enttäuscht und getroffen von dem
europäischen Medien- und Meinungsbild
Natürlich wird man erwidern: Putin sei nicht das Volk. Russland habe schließlich den Konflikt begonnen. Die
Menschen in Russland seien Opfer einer beispiellosen Propaganda. Ohne Zweifel
ist die emotionale, patriotisch überfrachtete Berichterstattung für uns
zutiefst befremdlich und beunruhigend. Aber täuschen wir uns nicht: Wir
verlieren gerade diejenigen, die den Blick stets nach Westen gerichtet haben.
Gerade die oft liberalen Eliten zeigen sich enttäuscht und getroffen von dem
europäischen Medien- und Meinungsbild. Wir nämlich blenden aus, dass die
Strategie des Westens (gibt es eine!?) der russischen Propaganda jede nur
mögliche Hilfe erteilt. Durch Sanktionen, die von der russischen Bevölkerung
als Strafe und Bedrohung empfunden werden, durch die Weigerung,
einen Dialog auf Augenhöhe zu führen, durch die Überheblichkeit, mit der man
sich im Besitz der besseren Werte wähnt, und
durch doppelte Standards. Diese Politik bringt die russische Nation in ein
bisher nicht gekanntes Bündnis mit der Macht und bereitet das Feld für
Scharfmacher jeglicher Couleur.
Paradox, ja verhängnisvoll scheint es, dass wir
offensichtlich wie selbstverständlich davon ausgehen, dass diejenigen die
Lage beruhigen werden, die wir tagtäglich als Hauptschuldige der Krise
identifizieren. Sicher, niemand will Krieg, weder in Russland noch im Westen.
Aber hatten wir das nicht schon einmal vor 100 Jahren? Aber wer vor Ort
arbeitet, weiß und erfährt täglich: Für Russlands Menschen steht weit mehr
auf dem Spiel als Wohlstand, Geopolitik, Gas und Öl. Beinahe jeder in Russland hat Verwandte oder Freunde in der Ukraine, die nach dem Ende der Sowjetunion ein Stück
weiter in die Ferne gerückt waren und nun ganz verloren zu gehen drohen.
Beinahe jeder in Russland hat im Kampf gegen Nazi-Deutschland Menschen
aus seiner Familie verloren. Diese Traumata sitzen tief, sie rühren an Emotionen und schüren Ängste, die
im Westen niemand in dieser Kraft vermutet. Und plötzlich werden aus Deutschen
wieder Nazis und aus Freunden wieder Fremde.
Wäre es nicht an uns Deutschen, die vielfach von
der Geschichte und von Russland beschenkt wurden, jetzt dafür zu kämpfen, den Mut des ersten Schrittes zu wagen? Wir müssen
aufhören, durch Vorwürfe, Schuldzuweisungen und immer neue „rote
Linien“ unsere eigenen Prognosen zu erfüllen! Wir müssen handeln, und zwar
schnell.
Ich appelliere an alle Akteure im Westen, jetzt
gerade paradox zu intervenieren! Russlands
Wahrnehmung reagiert mehr, als der Westen denkt, auf Symbole, Gesten der
Würdigung und versöhnende Zeichen. Setzen wir hier an mit einer Politik der
verstärkten Dialoge auf allen Ebenen – in der Politik, in der Wirtschaft und
besonders in der Gesellschaft. Ein Petersburger Dialog ist jetzt wichtiger denn je. Die
Wirtschaftssanktionen müssen fallen. Russische Bürger müssen spüren, dass sie
in Europa willkommen sind. Verspielen wir nicht dieses Kapital für Frieden und
Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert.
- Der
Autor ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied im Deutsch-Russischen Forum e. V
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