Das chinesische Jahrhundert, Die neue Nummer eins ist anders

von Professor Wolfram Elsner

Rezension Prof. Dr. Anton Latzo

Wolfram Elsner hat uns mit seinem Buch „Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders“, das kürzlich im Westend-Verlag erschienen ist, ein Werk vorgelegt, das jedem helfen kann, erstaunliche und oftmals unbekannte Einblicke in das alltägliche Leben und in fast alle Bereiche der Entwicklung und der Politik in diesem Land zu erlangen. Gerade in einer Zeit, in der das Bild Chinas bis zum Gegenteil verzerrt und verdreht wird, in der China erneut zu einer Gefahr hochstilisiert wird, können die Erkenntnisse seiner Analyse helfen, die vorgestanzten Vorstellungen über China, über seine Entwicklung und Politik sowie über seine führenden Politiker zu überwinden.  

Im Geleitwort heißt es: „Der Inhalt dieses Buches soll dazu animieren, selbstkritisch unseren westlichen Zeitgeist und unsere sogenannte moralische Überlegenheit zu hinterfragen. Unsere „Werte“ manifestieren sich in einer egozentrischen Politik, in der unsere eigene Sichtweise zumeist nicht mehr mit der Sichtweise der Entscheider und der Menschen der aufstrebenden Länder im Einklang stehen. Das ist äußerst risikobehaftet.“ (S. 11) 

Der Autor selbst beginnt seine Einleitung mit dem Geständnis: „Noch vor 15 Jahren hätte ich keinen Cent auf Chinas Zukunft gewettet. (…) Aber ich hatte ja keine Ahnung von den Ideen und reichhaltigen Erfahrungen Chinas, dem historisch ererbten großen Potenzial, dem Willen, aus dem ‚Jahrhundert der Demütigung‘ durch den europäischen Kolonialismus und dieses Landes, seiner Menschen und, ja, auch seines ‚Systems‘. Ich schaute also genauso skeptisch, genauer gesagt: mit genauso viel Unwissen und Unverständnis auf dieses Land, auf dieses ‚Phänomen‘, wie viele meiner mitteleuropäischen Mitmenschen es taten – und viele es auch heute noch tun.“ (S. 13)  

Das Buch besteht aus einer ausführlichen Einleitung und drei Hauptteilen. In der 60seitigen „Einleitung“ beschreibt der Autor seinen persönlichen Weg bis zur Erkenntnis der Wahrheit über die Volksrepublik China. Das reicht von der „Mao-Bibel“ über die „Kulturrevolution“, „Viererbande“, Reform & Öffnung bis zu den Hauptprozessen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Natürlich ist schon der Weg des Einzelnen ein interessanter und lehrreicher Lesestoff, bei dessen Lektüre man sich des Öfteren dabei ertappt, dass man Parallelen zu sich selbst entdeckt. Aber er betrachtet seine eigene Entwicklung in Zusammenhang mit konkreten Vorgängen im damaligen China und in der damaligen BRD und regt so zu Überlegungen an, die über das Persönliche hinausgehen. Vom Autor werden dabei wichtige Pfade einer ganzen Generation der alten BRD nachgezeichnet. Prof. Wolfram Elsner kommt auf diesem Wege auch zu der Erkenntnis: „Nur wenn die zahlreichen Komponenten und Dimensionen eines komplexen Systems nicht in Widerspruch zueinanderstehen, sondern konsistent und konvergent sind, kann es gelingen, ein System dauerhaft hinreichend stabil und gleichzeitig erfolgreich zu halten, Innovation und Stabilität zu verbinden und lange Nachhol- und Aufstiegsprozesse zu meistern. Dann gelingen auch solche bemerkenswerte Aufholprozesse, die China (allerdings in historisch ausgesprochen kurzer Zeit) zur Nummer eins auf fast allen wirtschaftlichen, technologischen, ökologischen und sozial-ökonomischen Feldern haben werden lassen.“ Das ist eine Schlussfolgerung, die weit über den Gegenstand des Buches hinausgeht und zum Weiterdenken auch über den Zustand und die Perspektive der kapitalistischen Gesellschaft heute, über die Widersprüche und ihre Lösungsmöglichkeiten in dieser Gesellschaft und über Erklärungen für empirische Beobachtungen anregt. Es stellt sich das Problem: in China ist es möglich, die Prozesse zu gestalten, weil die Gesellschaft den Raum dazu bietet. Was passiert aber, wenn die sozial-ökonomischen und politischen Gegebenheiten der „im Westen“ bestehenden Gesellschaft sich als Hindernis für die Lösung der auftretenden gesellschaftlichen Widersprüche erweist? Was ist notwendig, um den entstehenden Konflikt zu lösen?  

In den folgenden drei Teilen unterbreitet Wolfram Elsner seine Beobachtungen über das, „was im 21. Jahrhundert Erfolgsbedingungen einer ‚Nummer eins‘ sein könnten“. Er geht der Frage nach, „ob die Menschheit vielleicht unter bestimmten dieser Bedingungen und auf ähnlichen Wegen die Chance erhält, das Ende des 21. Jahrhunderts unter noch halbwegs humanen Bedingungen zu erleben – der Traum, für den unsere Schüler und Studenten heutzutage freitags auf die Straßen gehen.“ (S. 69) Es kann gelingen. Allerdings muss das „Friday for future“ zu einem „Everyday for future“ werden, das nicht nur Teilbereiche und einzelne empirische Beobachtungen im Blickfeld hat.

Anregungen dafür gibt der Autor in den drei folgenden Teilen, in denen er Fragen der Luftverschmutzung, des Kohleausstiegs, der Entwicklung des ländlichen Raums, des ökologischen Managements der Megastädte bis zur Frage der Literatur in China der Gegenwart behandelt. In einem weiteren Kapitel weist er nach, dass China verstehen lernen auch heißt, uns selbst zu verstehen. In einem Teil II behandelt er Strukturen und Prozesse des sozialen und ökonomischen Erfolgs auf dem Weg „vom Entwicklungsland zur Führungsnation“. (S. 107ff) In Teil III vermittelt er seine Sicht zum Komplex „Mosaik“ und „System“, um „‚die Sache rund‘, und ‚das Bild (das Mosaik) komplett‘“ zu machen. Er stellt viele Fragen. Sie lauten: „Alles Kommunismus“, was ist das für ein ‚System‘?“ bis zu „‘Diktatur‘ oder was‘“ und versucht, „im begrifflichen Gewusel (zu) sortieren“.(S. 304 ff)

Wolfram Elsner zieht die Schlussfolgerung, dass China „… wie wir in vielen Bereichen gesehen haben, Wege (geht), die die Menschheit noch nie gegangen ist. Es organisiert ein großes und unendlich viele kleine Experimente, wertet Erfahrungen aus, lernt und ändert gegebenenfalls und gegebenenfalls sehr schnell.“ (S. 334) Er kommt zu dem Schluss, dass wir gut daran tun, „zu beobachten und zu verstehen und selbst zu lernen, wie Zukunft aussehen könnte, uns selbst klarer zu machen, wie unsere Zukunft aussehen soll. Offensichtlich ist traditionelle eurozentrierte Überheblichkeit völlig fehl am Platz, stattdessen sind Bescheidenheit in der Kritik von außen und möglichst Kooperation und gemeinsames Lernen von und mit China angebracht“. (S. 335)