Was die DDR in der Seuchenbekämpfung besser machte

DDR-Sozialmediziner Heinrich Niemann fordert viel mehr Corona-Tests, kritisiert Fallpauschalen und fragt sich, warum der Schutz der Gesundheit nicht im Grundgesetz steht.

von Heinrich Niemann* -  21.5.2020

Obwohl ihre wirtschaftlichen Kräfte deutlich geringer als die der Bundesrepublik waren, konnte die DDR in der Tuberkulosebekämpfung, in der schnellen Zurückdrängung der spinalen Kinderlähmung, bei Kinderkrankheiten und später auch bei Aids zum Teil bessere Ergebnisse erreichen. Auch auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung wies sie gute Ergebnisse auf. Wieso? Das möchte ich erklären.

Die Reaktion auf eine Epidemie/Pandemie war vom Gesetz her geregelt. Der Gesundheitsminister leitete eine ständige Kommission zur Verhütung und Bekämpfung von Epidemien. Bereiche wie Bildung, Handel, Wirtschaft, Polizei gehörten dazu. Die staatliche Plankommission hatte die Aufgabe, schnellstmöglich zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren. In den 15 Bezirken und den Kreisen gab es Kommissionen und Seuchenbekämpfungspläne.  Die Einrichtungen des Gesundheitswesens – Universitätskliniken, Kreiskrankenhäuser, Polikliniken, Hygieneinspektionen, Arztpraxen, Kinder- und Pflegeeinrichtungen, aber auch die Betriebe, Schulen, Behörden – wurden von Beginn einbezogen. Das war präzise vorbereitet. Es fanden dazu sogar Übungen statt.

Die Polikliniken in der DDR konnten mit ihrer Struktur (mehrere Ärzte, eigenes Labor, räumliche Abgrenzung von Infektionsbereichen, Aufstellung von Notbetten, längere Öffnungszeiten) ihre Kräfte relativ schnell auf neue Aufgaben einstellen, ohne dass der einzelne Arzt wirtschaftlich in Gefahr geraten wäre. Das DDR-Gesundheitswesen war fast ausschließlich öffentliches Eigentum, wurde staatlich organisiert und in der Regel ärztlich geleitet. Der Gesundheitsminister und seine Stellvertreter, die Verantwortlichen in den Bezirken oder in den Kommunen waren fast ausschließlich Ärzte, vielfach erfahren in der Hygiene oder Sozialmedizin und Epidemiologie. Diese Autorität erleichterte die Abstimmung mit anderen Bereichen. Die DDR war in der WHO gerade wegen ihrer Expertise auf diesem Gebiet geschätzt.

Als Facharzt für Sozialmedizin bewegen mich all diese Fragen sehr. Mich wundert, wie lange es in den letzten Wochen manchmal dauerte, ehe praktikable Regelungen erarbeitet werden und wurden – für Gottesdienste, größere Kinos, Handel, Gaststätten, Hotels. Angeblich hatte sich der Berliner Senat mit der Gastronomie detailliert nicht beschäftigt, hieß es noch Ende April. Da ist der Protest der Berliner Amtsärzte und anderer Gremien zu verstehen, dass sie nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen sind oder Leiter von Einrichtungen zuerst über die Medien von Entscheidungen erfahren. Man staunt, dass es trotzdem einigermaßen funktioniert, jedoch um den Preis völlig unnötiger Verunsicherung und Zeitverlust.

Das Wort von Ärzten des öffentlichen Gesundheitsdienstes hat neben den Statistiken besonderes Gewicht. Denn die Mitarbeiter in den Gemeinden, Städten und Landkreisen kennen die jeweiligen Lebensumstände von Corona-Betroffenen und die Art und Weise der Verbreitung oder Zurückdrängung von Infektionen. Bei ihnen werden aus Statistiken konkrete Vorgänge, auf die mit konkreten Maßnahmen reagiert wird, natürlich einschließlich der korrekten Meldung an das Robert-Koch-Institut.

Ich plädiere dafür, die Tests weiter auszubauen. Sichere Erkenntnisse über Verlauf und Verbreitung der Krankheit werden sich am Ende auszahlen, besonders da es sich um ein Virus mit noch wenig bekannten Eigenschaften handelt. Für Kinder und Jugendliche sind die Erkenntnisse entscheidend, auch die Meinung von Kinderärzten. Geöffnete Schulen und Kitas können mit medizinisch begleiteter Überwachung auf Dauer einen besseren Gesundheitsschutz sichern als die jetzige Situation. Die Erfahrungen mit den „notbetreuten“ Kindern und dem begonnenen Schulunterricht machen Mut.

Lieber höhere bekannte Ziffern als Dunkelziffern! Und das Robert-Koch-Institut sollte bei seiner Methode der Datenerfassung und Berichterstattung bleiben. Das schließt die zügige Ausweitung der Tests, die Komplettierung der zu erfassenden Daten und die Erweiterung von Meldepflichten ein. Es ist im Übrigen eine Unart, bei Statistiken mit besserwisserischem Eifer unterschiedliche Datenerheber, Erhebungsmethoden und Messzeitpunkte je nach Bedarf und ohne entsprechende Erläuterung ins Spiel zu bringen. Nicht selten wird in bestimmte Zahlen mehr hineingedeutet, als sie aussagen können. Die Ziffern der Hopkins-Universität haben bisher meines Erachtens keine signifikant anderen Erkenntnisse über Deutschland gebracht.

Eine Analyse der regionalen Unterschiede in den Corona-Fällen (so zum Beispiel die seit Beginn sehr günstigen Zahlen in Mecklenburg-Vorpommern oder auch in einigen Berliner Bezirken) kann dazu beitragen, unterschiedliches Vorgehen bei Lockerungen gut zu begründen und nachvollziehbar zu machen. Alle Gestorbenen mit Corona-Verdacht sollten obduziert werden, wie es nach Hamburg nun häufiger geschieht. Solche wichtigen Sektionen sind leider generell aus der Mode gekommen. Sie belegen zum Beispiel, dass es im Vergleich zur Influenza tatsächlich einen anderen Befall der Lungen bzw. anderer Organe gibt. Der Behandlungsbedarf anderer Krankheiten muss trotzdem im Blick bleiben. In anderen Teilen der Welt bleiben Tuberkulose, Malaria, Hunger, unsauberes Wasser tödliche Bedrohungen, obwohl wir die Mittel dagegen kennen und hätten.

Eine der wichtigsten politischen Forderungen ist, das Gesundheitswesen (endlich) zu verändern, ja, zu verstaatlichen. Das hieße, es aus den Fesseln einer gewinnorientierten Gesundheitswirtschaft zu befreien. Denn dann könnten wir schneller und effektiver auf außergewöhnliche Aufgaben wie eine Epidemie reagieren. Der am Beginn der Corona-Krise erfolgte „Hilferuf“ von privatisierten Krankenhäusern nach Ausgleich ihrer Einnahmeausfälle, weil sie planbare Operationen verschieben sollten, ist bezeichnend. Im ambulanten Bereich schienen viele Ärzte mit ihren Praxen allein gelassen. Inwieweit sehen jedoch die kassenärztlichen Vereinigungen die Vorbereitung auf epidemische Situationen als Teil ihres Sicherstellungsauftrages? Der öffentliche Gesundheitsdienst, seit Jahren heruntergefahren, wird wegen seiner offensichtlich nicht ersetzbaren Funktion gelobt. Besonders Ärzte in diesem Bereich werden aber schon seit längerem unanständig schlecht vergütet.

Die Änderung der Eigentumsverhältnisse muss einhergehen mit der Befreiung der Krankenhäuser vom Fluch der Fallpauschalen. Das wäre nicht nur kostengünstiger, sondern auch medizinisch wirksamer. Ein Arzt ist kein (Klein-)Unternehmer! Diese Rolle führt zu Interessenkonflikten. Es ist kein Zufall, dass im ambulanten Bereich immer mehr Ärzte als Angestellte tätig sein wollen. Wenn das Gesundheitswesen staatlich wäre, könnten die als Medizinische Versorgungszentren etablierten Kapitalunternehmen, die oft täuschend als Polikliniken firmieren, keine privaten Gewinne aus der, über die gesetzlichen Krankenversicherung erfolgenden Finanzierung ihrer Leistungen ziehen. Ja, es würde keiner mehr aus gesetzlichen Versicherungsbeiträgen sachfremde Erlöse erzielen.

Das Wort Gesundheit taucht im Grundgesetz überhaupt nicht auf! Wichtigste Verfassungsstütze bisher ist das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Ansatzpunkte bieten das Sozialstaatsgebot, Aussagen über den Schutz von Frauen und Kindern und über die allgemeinen Katastrophen- und Notstandssituationen. Demgegenüber gibt es völkerrechtliche Aussagen zu Gesundheit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im Uno-Menschenrechtsabkommen. In unserem Land kann man lange spitzfindige Gutachten lesen, die die Nichtaufnahme von Rechten in das Grundgesetz rechtfertigen. Zwar könnte man auch mit dem jetzigen Grundgesetz vieles ermöglichen, zum Beispiel den Aufbau von Polikliniken, die Abrechnung der Leistungen ohne Fallpauschalen, eine bessere Krankenhausplanung. Doch sollte die Corona-Erfahrung Anlass sein, den Schutz der Gesundheit in das Grundgesetz aufzunehmen.

Wer das Gesundheitssystem verbessern will, sollte Konzept, Struktur und Ergebnisse des DDR-Gesundheitswesens kennen. Hier offenbart sich unaufschiebbarer Nachholbedarf. So nannte der letzte DDR-Gesundheitsminister Prof. Dr. Jürgen Kleditzsch (CDU) in der Regierung de Maizière die Gesundheitspolitik in Gesamtdeutschland „konzeptionslos“, es fehlte an dem politischen Willen, die „positiven Seiten beider Seiten“ zusammenwachsen zu sehen. Ähnlich erinnerte sich Franz Knieps als nach dem Osten gesandter Gesundheitsexperte. Ihm wurde „von den eigenen Leuten“ gesagt: „Ich sei nicht in den Osten geschickt worden, um über den Erhalt von DDR-Strukturen nachzudenken, sondern um eine reibungslose Ausweitung der westdeutschen Krankenversicherung zu organisieren.“

Die DDR-Verfassung machte in fünf Artikeln Aussagen zur Gesundheit. Ich zitiere hier den Artikel 35:

(1) Jeder Bürger hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und Arbeitskraft.

(2) Dieses Recht wird durch die planmäßige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die Pflege der Volksgesundheit, eine umfassende Sozialpolitik, die Förderung der Körperkultur, des Schul- und Volkssports und die Touristik gefördert.

(3) Auf der Grundlage eines sozialen Versicherungssystems werden bei Krankheit und Unfällen materielle Sicherheit, unentgeltliche ärztliche Hilfe, Arzneimittel und andere medizinischen Leistungen gewährt.

In weiteren Artikeln wird auf das Recht auf Betreuung im Alter, bei Invalidität und Arbeitsunfähigkeit sowie den Schutz und die medizinische Betreuung von Mutter und Kind abgestellt.

Was muss geschehen?

Die Grenzen der gegenwärtigen ambulanten Medizin mit seinen privaten Niederlassungen und den privaten Versorgungszentren sollten durch das poliklinische Prinzip aufgelöst werden: unbürokratische Zusammenarbeit zwischen Ärzten, eine breitere Zugänglichkeit, längere Öffnungszeiten, effektivere Nutzung von Geräten und Labors, kurze Wege, effektivere Verwaltung. Der öffentliche Gesundheitsdienst muss gestärkt und qualifiziert werden. Es ist verantwortungslos, wenn zurzeit allein in Berlin wohl deutlich mehr als 50 Ärzte in diesem Bereich fehlen, weil sie nicht angemessen bezahlt werden.

Eine vernünftige Krankenhausplanung muss ein Krankenhausnetz zum Ziel haben, dem sich die Interessen der einzelnen Träger und Eigentümer unterordnen müssen. Auch in der DDR wurden die Bettenzahlen dem tatsächlichen Bedarf und den neuen Behandlungsmöglichkeiten angepasst und über die Jahre reduziert. Auch in der DDR spielte die Entwicklung von Kapazitäten bei schwierigen, seltenen Operationen oder Therapien eine wichtige Rolle. Doch der Effekt für die Gesundheit hatte das Primat, nicht Profitabilität.

Der berühmte amerikanische Herzspezialist und Gründer der Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg, Bernard Lown, schrieb im Vorwort seines Buches „Die verlorene Kunst des Heilens“: „Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Augenblick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren.“


* Dr. med. Heinrich Niemann, 75, Studium an der Charité, ist Facharzt für Sozialmedizin und war von 1992 bis 2001 Gesundheitsstadtrat in Marzahn-Hellersdorf.

Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/zeitenwende/ein-arzt-ist-kein-kleinunternehmer-li.84055