https://faz.met.vgwort.de/na/pw-a373b5be1b704ba5923ac3d4c0ea9305DDR: Egon Krenz zur Grenzöffnung 1989

Interview mit Egon Krenz : "Also, dann hoch mit den Schlagbäumen!"

von Henrik Pomeranz

"Die Mehrheit der Bürger der DDR ist im Herbst vor dreißig Jahren nicht auf die Straße gegangen, damit deutsche Truppen wieder an Russlands Grenze ziehen und deutsche Panzer erneut dort stehen, wo sie am 22. Juni 1941 schon einmal standen. Das ist eine Schande!

Der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon Krenz, über die Grenzöffnung, seinen Vorgänger Erich Honecker und das, was er in der Bundesrepublik gut findet.

Herr Krenz, Sie wollten weder den Mauerfall, wie er letztlich kam, noch die Wiedervereinigung. Wenn Sie auf die deutsche Geschichte seitdem schauen, wofür können Sie dennoch dankbar sein?

Das Entscheidende an der deutschen Einheit ist für mich, dass uns die Last genommen wurde, dass in einem Krieg Deutsche gegen Deutsche hätten kämpfen müssen.

Sie hatten die Maueröffnung damals zwar beschlossen, wurden von den Ereignissen aber am Ende überrumpelt.

Wir haben nicht die „Maueröffnung“ beschlossen, sondern eine neue Reiseverordnung

Dass durch einen Versprecher Schabowskis daraus eine unkontrollierte Grenzöffnung wurde, war keine Meisterleistung. Wenn es im Zusammenhang mit dem 9. November etwas gibt, worüber sich nicht nur DDR-Bürger, sondern alle Deutschen freuen können, dann, dass alles friedlich blieb und kein Schuss fiel. Dass an diesem Abend Sekt floss und nicht Blut, das ist kein Erbe von Bundeskanzler Kohl, das ist das Erbe der DDR!

Und Ihres als deren Staatsoberhaupt?

Ich trug in jener Nacht die Gesamtverantwortung. Eine falsche Entscheidung von mir hätte zu einer Katastrophe führen können. Es gab von mir den Befehl 11/89 vom 3. November 1989. Der besagte, dass es beim Eindringen ins Grenzgebiet strengstens verboten ist, die Schusswaffen einzusetzen. Nach dem Gesetz hätte ich das eigentlich gar nicht befehlen dürfen, weil ich damit einen Beschluss der Volkskammer zum Schutz der Grenzen außer Kraft gesetzt hatte.

Wieso kamen Sie gerade am 3. November auf diese Idee?

Am 1. November war ich in Moskau bei Michail Gorbatschow. Bei einem Mittagessen im Kreml kam der Chef des KGB, Krjutschkow, zu mir. Sein Dienst habe Informationen, sagte er, dass sich von der Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November eine Gruppe abspalten würde, die in Richtung Brandenburger Tor marschiere, um dort die Grenze gewaltsam zu überwinden. Das hat mich natürlich sehr beunruhigt, denn eine solche Aktion hätte Blutvergießen bedeuten können. Da habe ich diesen Befehl erlassen. Der galt nicht nur für diesen Tag, sondern auch am 9. November. Dass an dem Abend nicht geschossen wurde, war also befehlsmäßig gesichert. „Keine Gewalt!“ stand nicht nur auf den Schärpen der Demonstranten am 4. November, sondern war auch unsere Handlungsmaxime.

Als Schabowski am 9. November zu der Pressekonferenz aufbrechen wollte, sagten Sie ihm, er solle die neue Regelung verkünden, die Reisen in den Westen ermöglichen sollte. Mit welcher Hoffnung schickten Sie ihn dorthin?

Ich dachte, dass der Beschluss in dieser komplizierten Situation helfen könnte, die Forderungen der DDR-Bevölkerung zu erfüllen. Denn am größten war der Wunsch zu reisen – ohne Bedingungen und Vorschriften. Dass wir diesen Wunsch nicht schon Jahre zuvor erfüllten, spricht gegen uns. Dieser Beschluss sollte erst am 10. November in Kraft treten. Aber durch die Schusseligkeit von Schabowski wurde er gewissermaßen auf den 9. November vorverlegt.

Und wurde zum vielleicht berühmtesten Missverständnis in der deutschen Geschichte.

 

Ich habe ihm mein Exemplar des Regierungsbeschlusses mitgegeben, der enthielt als Anlage eine Pressemitteilung, die am nächsten Tag, dem 10. November, um 4 Uhr früh veröffentlicht werden sollte. Und der letzte Satz dieser Pressemitteilung lautete: „Diese Verordnung tritt ab sofort in Kraft.“ Er hätte also bei der Pressekonferenz sagen müssen: „Dieser Beschluss tritt morgen in Kraft.“ Er hat aber vorgelesen, was in der Pressemitteilung für den 10. November stand.

Woher konnte er das denn wissen, hatten Sie es ihm gesagt?

Er hat doch den Beschluss selbst mitgefasst. Selbst wenn es stimmen sollte, dass er nicht im Raum war, als ich den Text im Zentralkomitee vorgelesen habe, bleibt, dass er dem Beschluss zuvor in der Sitzung des Politbüros zugestimmt hatte. Er war also genau im Bilde. Es war reine Schussligkeit, mit der er uns in eine äußerst gefährliche Situation gebracht hatte. Allerdings widerspreche ich denen, die meinen, er habe dies absichtlich getan. Dafür habe ich keinerlei Anzeichen. Er war damals ein äußerst disziplinierter Parteisoldat.

Nachdem Schabowski die Reiseregelung verkündet hatte und die DDR-Bürger schon an die Grenze strömten, waren Sie und alle wichtigen DDR-Politiker noch auf der Tagung des Zentralkomitees. Wie haben Sie von der Situation an der Mauer erfahren

Als die Tagung vorbei war, dauerte es vielleicht noch eine Viertelstunde, da war Erich Mielke, der Staatssicherheitsminister der DDR, wieder an seinem Arbeitsplatz und rief mich an. Er sagte, dass sich Leute in Richtung Grenze bewegten. Schabowski habe etwas auf der Pressekonferenz gesagt, so Mielke, aber Genaues wisse er auch nicht. Für die Grenze war der Minister für Nationale Verteidigung verantwortlich. Den versuchte ich anzurufen, aber er war noch nicht zurück. Das Ministerium für Verteidigung befand sich in Strausberg, nicht in Berlin. Der Weg vom Zentralkomitee dorthin war also länger. In meinem Arbeitszimmer waren noch die Politbüromitglieder Siegfried Lorenz und Wolfgang Herger. Alle anderen waren unterwegs in ihre Büros oder nach Hause. Mielke rief mich erneut an und sagte: Wenn wir nicht sofort entscheiden, was zu tun ist, dann verlieren wir die Kontrolle. Meine Nervosität konnte ich in dem Moment nur schwer verbergen. Es war wohl der schwerste Augenblick meines Lebens. Mein Entscheidungsspielraum war eng: Entweder ließen wir den Dingen freien Lauf, oder wir setzen das Machtmonopol des Staates durch. Ich entschied, wegen der paar Stunden bis zum 10. November keine Konfrontation zu suchen. Und da habe ich gesagt: Also, dann hoch mit den Schlagbäumen!

Zu der Zeit waren aber einige Grenzübergänge schon geöffnet.

Die Offiziere dort haben auch ohne Anweisung von oben das Richtige getan. Nachdem ARD und ZDF berichtet hatten, die Grenze sei offen, kamen die Massen. Damals haben weder der amerikanische Präsident noch Bundeskanzler Kohl von einem „Sturm auf die Mauer“ oder vom „Mauerfall“ gesprochen. Sondern schlicht von einer „Grenzöffnung“. Alles andere sind nachträglich eingeführte ideologisch aufgeladene Begriffe.

Was haben Sie zu Schabowski gesagt, als Sie ihn das nächste Mal gesehen haben?

Ich war nicht sehr erfreut darüber, aber wir haben die Sache nicht besonders hochgezogen. Wir mussten mit der neuen Lage umgehen. Zu keinem Zeitpunkt habe ich daran gedacht, alles wieder zurückzudrehen.

Am 9. und 16. Oktober, als bei den Montagsdemonstrationen Zehntausende auf die Straße gingen, fürchteten viele, dass es zum Blutvergießen kommt. Wie wichtig war für den friedlichen Ausgang des 9. November, dass zuvor schon in Leipzig alles gutgegangen war?

Sicherlich gab es da einen Zusammenhang, das waren komplexe gesellschaftliche Vorgänge, keine simple Kausalkette der Art: Weil es in Leipzig friedlich blieb, wurde auch am 9. November in Berlin nicht geschossen. Doch ich will auch hier noch einmal sagen, dass ich am 9. Oktober in Leipzig nicht ein Transparent gesehen habe, auf dem gestanden hätte: „Weg mit der DDR!“ Das gab’s zu diesem Zeitpunkt nicht! Es gab aber einen Aufruf von Generalmusikdirektor Masur und weiteren Persönlichkeiten, darunter allein drei aus der Leipziger SED-Führung. Und dort steht klipp und klar drin: „Es geht uns um einen Dialog über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land.“ Und wenn bei einer Demonstration so ein Ziel besteht, dann kann doch niemand glauben, dass die DDR-Führung dagegen Gewalt eingesetzt hätte. 

Honecker wollte Stärke zeigen. Er hat Gedanken dazu geäußert, Panzer durch die Stadt fahren zu lassen und Absperrungen zu errichten. Durch solche Provokationen hätte die Lage eskalieren können.

Aber nichts von dem ist verwirklicht worden. Jahre später hat Bundespräsident Köhler behauptet: „Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.“ Ich kann auf meinen Eid nehmen, dass nichts davon stimmt.

Aber trotzdem haben Sie im Politbüro offen und hinter seinem Rücken gegen Honeckers Linie gewirkt, oder nicht?

Ich habe nicht „gegen seine Linie gewirkt“, sondern registriert, dass er aus verschiedenen Gründen, auch aus gesundheitlichen, nicht mehr den Aufgaben gewachsen war, die er in seinen Funktionen zu lösen hatte. Diese Beobachtung machte ich nicht erst im Oktober, sondern schon seit 1987. Ich war nicht der Einzige im Politbüro, der dies bemerkte. Ich habe aber viel zu spät die Auseinandersetzung mit ihm gesucht.

 

Wie haben Sie versucht, die Situation zu beeinflussen?

Am Morgen des 9. Oktober kam der Direktor des Instituts für Jugendforschung aus Leipzig zu mir, Professor Walter Friedrich. Er war erregt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Heute Abend darf kein Blut fließen, sagte er. Ich fragte: Wieso, woher weißt du, dass das passieren soll? Die Journalisten würden das meinen, entgegnete er. Da war natürlich viel Propaganda aus der alten Bundesrepublik dabei. Es wurden Gerüchte gestreut, und die verbreiteten sich schnell. Ich habe ihm versichert: Es wird keine Gewalt geben! Mit dieser Zusage ist er nach Leipzig zurückgekehrt.

Wie konnten Sie so sicher sein, dass es staatlicherseits auch tatsächlich gewaltfrei bleiben würde?

Das haben wir schon am frühen Morgen des 8. Oktober bei einer Zusammenkunft im Kreise der höchsten Vertreter aller für die Sicherheit der DDR Zuständigen vereinbart. Da ging es um die Auswertung der Vorkommnisse am 7. Oktober abends, wo es Zusammenstöße von Demonstranten mit der Staatsmacht gegeben hatte.

In vielen Städten waren Demonstrationen unter massivem Knüppeleinsatz der Polizei aufgelöst worden. Auch deshalb fürchteten viele, dass es am 9. Oktober in Leipzig zum Gewaltausbruch kommen würde.

So war es wohl. Und deshalb musste jede Wiederholung verhindert werden. Deshalb hatte ich eine Erklärung für das Politbüro vorbereitet, die ich den Generalen bei jener Beratung vortrug. Die Botschaft lautete: Politisch entstandene Probleme dürfen nur politisch und nicht mit Gewalt gelöst werden! Ich war gleichermaßen erstaunt und beruhigt, dass diese so sachliche Truppe am Ende klatschte. Das war im Rückblick einer der entscheidenden Momente im Herbst ’89: Die Verantwortlichen aller Schutz- und Sicherheitsorgane hatten sich zur Gewaltlosigkeit bekannt.

War auch Honecker dabei?

Nein, Honecker war dagegen, dass diese Erklärung im Politbüro behandelt würde. Und dass ich sie dann gegen seinen Willen vorgelegt habe, hat auch dazu geführt, dass sich unsere Wege trennten.

Sie haben dann die Absetzung Honeckers vorangetrieben. Wie war es für Sie, ihn zu stürzen?

Das war für mich eine emotional sehr schwere, aber auch notwendige Entscheidung. Es ist für mich kein Thema mehr, das ist inzwischen abgeschlossen.

Weil er Ihr Freund und Mentor war?

Ja, das kann man durchaus sagen – über viele Jahre. Und es gab ja auch gute Gründe dafür, dass ich ihn geschätzt habe. Honecker hat für seine Überzeugung zehn Jahre bei den Nazis im Zuchthaus gesessen. Als er Staatsoberhaupt der DDR war, hat er sich für eine blockübergreifende „Koalition der Vernunft“ engagiert und wesentlich dazu beigetragen, dass es nicht zum Krieg zwischen Nato und Warschauer Pakt kam.

 

Juni 1979: Krenz an der Seite von Erich Honecker

 

Juni 1979: Krenz an der Seite von Erich Honecker : Bild: dpa

 

Aber das sind alles alte Verdienste, die man nicht aufrechnen kann in einer Situation, in der es darum geht, dass jemand in der Führung eines Staates nicht mehr tragbar ist.

Ich muss doch anerkennen, dass Honecker fast zwanzig Jahre lang an der Spitze des Staates und der Partei stand. Und was er in dieser Zeit an Positivem geschaffen hat, kann ich nicht ignorieren und einfach beiseitelegen. Das kann ich nicht streichen, wenn ich über Honecker rede ... Ich habe ihn gestürzt, jawohl! Weil ich der Meinung war, dass die Gefahr, wenn er bliebe, durch Nichtstun größer würde, als wenn wir verändern.

Sie haben die Mauer geöffnet. Trotzdem wird etwa Michail Gorbatschow von vielen Deutschen sehr verehrt, während Sie öffentlich eher im Abseits stehen. Warum, glauben Sie, ist das so?

Das müssen Sie die Leute fragen, die diese unterschiedlichen Bilder verbreiten. Aber ich kann überall auf die Straße gehen. Unlängst stellte ich in Berlin mein Buch „Wir und die Russen“ vor. Zu dieser Veranstaltung kamen mehr als fünfhundert Menschen. So abseits, wie Sie meinen, stehe ich nicht. Mich besuchen sehr viele Leute, ich nehme an Veranstaltungen teil, in der Öffentlichkeit werde ich erkannt, viele suchen das Gespräch mit mir, ich erhalte so viel Post, dass ich Mühe habe, alle Briefe zu beantworten. Dieser Tage kam ein Brief aus Indonesien mit der Adresse: Egon Krenz, Deutschland. Die Post kam an. Das fand ich bemerkenswert. Enkel bitten mich bei Jubiläen ihrer Omas und Opas Grüße zu übermitteln – was ich dann auch gern tue. Probleme mit mir haben eher manche Medien. Das öffentliche Bild von mir wurde schon bevor ich an die Spitze der DDR aufrückte von der politischen Elite der alten Bundesrepublik gezielt beeinflusst.

Was meinen Sie damit?

Es gab im Frühsommer 1989 eine Einschätzung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR an das Bundeskanzleramt in Bonn, die an Journalisten durchgesteckt wurde. Darin stand unter anderem, dass ich als möglicher Nachfolger Honeckers der DDR-Bevölkerung mit dem Platz des Himmlischen Friedens drohe.

Also damit, Proteste wie in Peking mit Gewalt niederzuschlagen.

Es wurde ein Image kreiert, das die Menschen das Fürchten lehren sollte. Die elektronischen Medien der Bundesrepublik wurden in der DDR empfangen. So gelangte dieses Bild auch zu uns.

Die Angst, dass Sie als Antwort auf die Demonstrationen Gewalt befürworten könnten, kam durch ein Interview auf, in dem Sie sagten, in China sei „etwas getan worden, um die Ordnung wiederherzustellen“. Das konnte man als Verteidigung Chinas verstehen.

Meine Grundtendenz in diesem Interview war: Wenn es in China Bürgerkrieg gibt, dann ist das eine Sicherheitsfrage für die ganze Welt. Ein Fünftel der Menschheit, so viele Menschen waren nicht einmal im Zweiten Weltkrieg involviert! Aber das Thema wurde letztlich juristisch aus der Welt geschafft. Das Landgericht Hannover untersagte unter Androhung einer Strafe der ehemaligen DDR-Bürgerin Christine Bergmann, die später Familienministerin im Kabinett Schröder wurde, weiter zu behaupten, Krenz habe der DDR-Bevölkerung mit dem Platz des Himmlischen Friedens gedroht.

Vielleicht hängt die Meinung vieler über Sie ja auch damit zusammen, dass Sie Kommunist geblieben sind und deswegen als unbelehrbar gelten – im Gegensatz zu einstigen Weggefährten wie Günter Schabowski.

Das ist bei der antikommunistischen Grundstimmung, die es in der Bundesrepublik gibt, durchaus denkbar. Aber: Was würden Sie wohl von mir halten, wenn ich mich als ehemaliges Staatsoberhaupt der DDR von allem distanzierte? Wenn ich so tun würde, wie etwa Schabowski es tat, als habe ich mit alldem nichts zu schaffen gehabt? Schuld hatten die anderen, man selber hätte alles ganz anders und besser gemacht, wenn man denn nur gedurft hätte. Da würden Sie wohl – und das mit allem Recht – sagen: Der ist charakterlos! Und ich könnte nicht mehr in den Spiegel schauen. Ich stehe zu meiner Überzeugung und zu meinen Fehlern. Leute wie Schabowski haben sich auf dem Hacken umgedreht und behaupteten das Gegenteil von dem, was sie vierzig Jahre lang verkündet hatten. Haben sie damals gelogen, oder machten sie nach 1990 allen etwas vor? Außerdem sollte man nie die existentiellen Zwänge unterschätzen. Schabowski verlor wie Millionen andere Ostdeutsche die Arbeit. Da ging mancher Verabredungen ein, um die Miete bezahlen und die Familie ernähren zu können. Meinen Sie aber im Ernst, wenn ich mich so opportunistisch verhalten hätte, dass mein Medienbild freundlicher und sympathischer wäre? Wohl kaum.

Aber sicher hilft heute auch nicht, dass Sie viele Ungerechtigkeiten der DDR, wie Überwachung und Repression, nach wie vor nicht sehen wollen.

 

Woher wollen Sie das wissen? Sie kennen mich doch gar nicht. Journalisten kommen zu mir meist mit fester Meinung, die sie aus Beiträgen anderer gewonnen haben, sie wollen eigentlich nur noch die Bestätigung ihrer und der umlaufenden Vorurteile. In der Berichterstattung über meine erwähnte Berliner Buchpremiere war jedoch erkennbar, dass sich da etwas zu verändern beginnt. Richtig böse, gehässige Beiträge, wie ich sie seit dreißig Jahren gewohnt bin, waren kaum noch dabei. Journalisten in den USA, Großbritannien, China, Russland beurteilten mich und meine Haltung schon immer seriöser, auch diesmal, nun also finde ich dieses sachliche Herangehen auch in hiesigen Medien. Ich sehe die DDR und unsere Fehler und Schwächen äußerst kritisch, weil ich sie selbst erlebt und mitunter auch verursacht habe. Wenn ich zurückfragen darf: Was verstehen Sie unter Überwachung?

Das Spitzelsystem, das Abhören, dass Systemkritiker vernommen und ins Gefängnis gesteckt wurden: Sehen Sie nicht, dass das problematisch war?

Wissen Sie, die DDR hatte ein hohes Sicherheitsbedürfnis. Als ich in meinem Prozess den Zeugen Egon Bahr fragte, ob die Bundesrepublik auch ein Feindbild hatte, sagte er: „Selbstverständlich.“ Ich fragte nach: Wie hieß es? Er antwortete: „Die DDR muss weg!“ Den politischen Gegner, der die DDR bekämpfte, den gab es wirklich, der war keine Erfindung der Propaganda. Aber irgendwann haben wir überzogen: Nicht jeder, der zum Feind der DDR erklärt und so behandelt wurde, war auch einer. Die Jacke müssen wir uns leider anziehen. Geschehenes Unrecht kann ich nur bedauern. Aber wir sollten nicht so tun, als hätten die westdeutschen Nachrichtendienste nur Gänseblümchen gezählt. Auf eine kleine Anfrage im Bundestag antwortete die Bundesregierung (Drucksache 18/3475): „Der Bundesnachrichtendienst und seine Vorläuferorganisation Gehlen haben zwischen 1946 und April 1990 mindestens 71.500 DDR-Bürger ausspioniert.“ Und die Abhöraktionen der NSA – schon vergessen? Die schreckten nicht einmal vor der telefonischen Überwachung der Bundeskanzlerin zurück. Ich habe jetzt auch Einsicht in meine Akten beantragt.

Was für Akten?

Die der BND über mich geführt hat. Bisher hat sich Pullach nur zur Auskunft summarischer Einschätzungen durchgerungen: „In den Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes befinden sich Mutmaßungen über Ihren damaligen Gesundheitszustand.“ Dass ich angeblich Diabetes, Probleme mit Nieren, Leber und Bauchspeicheldrüse hätte. Aber das wird gewiss nicht das letzte phantasiereiche Wort gewesen sein, was ich aus Pullach gehört habe.

Aber Herr Krenz, Sie waren das Staatsoberhaupt, und es war ein verfeindetes Land, das Sie da ausspioniert hat und nicht das eigene!

Da urteilen Sie aber sehr nachsichtig. Natürlich haben Sie recht: Der Kalte Krieg war auch der Krieg der Nachrichtendienste. Mich stört nur das ungleiche Maß der Beurteilung: Das, was die DDR für ihre Sicherheit unternommen hat, war ein Verbrechen. Aber was die westlichen Dienste getan haben und immer noch tun, ist rechtens. Es geht um die Aufarbeitung dieser Dinge. Ich bin gegen die einseitige Verurteilung der DDR.

Sie scheinen sich ein bisschen als oberster Advokat des Bildes von der DDR zu sehen.

Ein Advokat bin ich nie gewesen, aber ich stemme mich gegen Unterstellungen, Verleumdungen und Lügen. Die DDR war wahrlich kein Paradies, aber sie war auch nicht die Hölle, als die sie seit 1989 gezeichnet wird.

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland heute?

Ich halte es da mit Bismarck, der – so hat es uns seine Enkelin in einem Brief am 25. Januar 1947 überliefert – noch auf dem Sterbebett wiederholt hat: „Nie gegen Russland.“ Ein gutes Verhältnis zu den Russen ist eine Schicksalsfrage für die Deutschen. Wer es nicht versteht, dass es auch eine Frage der Vernunft ist, mit Russland zusammenzustehen, der verstößt gegen elementare deutsche Interessen. Die Mehrheit der Bürger der DDR ist im Herbst vor dreißig Jahren nicht auf die Straße gegangen, damit deutsche Truppen wieder an Russlands Grenze ziehen und deutsche Panzer erneut dort stehen, wo sie am 22. Juni 1941 schon einmal standen. Das ist eine Schande!

An der Bundesrepublik haben Sie viel zu kritisieren. Können Sie dem Leben hier auch was Gutes abgewinnen?

Ich bin kein Ignorant, ich weiß, dass vieles im Osten Deutschlands besser geworden ist. Dass es etwa wunderbare Initiativen gegeben hat, die Innenstädte zu gestalten. Nur es ist alles immer so widersprüchlich: Ich sehe die Schönheit der Innenstädte, die wir leider nicht hatten. Aber ich sehe auch, dass es für normale Menschen schwer ist, dort die Miete zu bezahlen. Ich bewundere das vielfältige Warenangebot und ärgere mich über die Schlangen bei den Tafeln. Ich freue mich, wenn es heißt, dass es Deutschland gutgeht. Aber ich weiß, dass das eben noch lange nicht bei jedem Deutschen ankommt.

Was wünschen Sie Deutschland für die Zukunft?

Dass es nazifrei wird und bleibt. Dass es normale Beziehungen zu Russland bekommt. Dass die Eltern und Großeltern wieder die Zuversicht haben, dass es ihren Kindern einmal bessergeht – und nicht das Gegenteil befürchten. Und natürlich auch, dass man zu mehr Ehrlichkeit findet in der Bewertung der DDR.

Quellen:

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/egon-krenz-im-interview-ueber-den-mauerfall-und-das-ende-der-ddr-16327753.html?premium

 

https://www.youtube.com/watch?v=-Wa2ZbaYt8A