Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag
zum geplanten
Bundeswehreinsatz in der Türkei
Kassel/Berlin,
22. November 2012 – Zur Ankündigung der Bundesregierung, im Bundestag ein
Mandat für den Einsatz der Bundeswehr an der türkisch-syrischen einzuholen,
erklärten die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in einer
Stellungnahme, die auch den Fraktionen des Bundestags zugestellt wird:Außenminister Westerwelle erklärte
gestern im Bundestag, wenn ein NATO-Partner um Hilfe bittet, dann müssten schon
„sehr gute Gründe“ vorliegen, einer solchen Bitte nicht zu entsprechen. „Solche
Gründe sehe ich nicht.“ Dabei liegen sie auf der Hand. Aus der vorliegenden
außen- und sicherheitspolitischen Expertise lassen sich die folgenden zehn
Gründe anführen, die eindeutig gegen eine Stationierung der angeforderten
Patriot-Systeme mit entsprechender Bundeswehr-Begleitung sprechen.(1) Von
syrischer Seite liegen keinerlei Anhaltspunkte vor, eine Aggression gegen das
nördliche Nachbarland Türkei vorzubereiten oder auch nur zu denken. Alle bisher
aufgetretenen Grenzzwischenfälle haben ausschließlich mit den innersyrischen
Kämpfen zu tun (siehe dazu Punkt 3), nicht aber mit irgendwelchen
Provokationen.(2) Viel eher werden von türkischer Seite Drohungen ausgestoßen und
Interventionsabsichten gegen Syrien geäußert. Am weitesten geht der von der
Regierung im türkischen Parlament eingebrachte und mit großer Mehrheit
verabschiedete Kriegsvorratsbeschluss vom 4. Oktober 2012. Darin wird die
Regierung Erdogan zum „einjährigen Einsatz der türkischen Streitkräfte im
Ausland“ ermächtigt, „deren Rahmen, Zahl und Zeit von der Regierung festgelegt
werden“. Einen Tag später erklärte Ministerpräsident Erdogan offen, dass er zum
Krieg rüste: „Wir mögen den Krieg nicht, aber wir sind auch nicht weit davon
entfernt. Es gibt eine Redewendung, die besagt, dass man sich für den Krieg
vorbereiten soll, wenn man den Frieden will. So wird der Krieg zum Schlüssel
für den Frieden.“ Der Militärexperte Gerhard Piper nennt das „Brinkmanship“-Politik,
ein Spiel am Rande des Abgrunds.(3) Alle sicherheitspolitisch relevanten
Vorfälle der letzten Monate an der syrisch-türkischen Grenze tragen die
Handschrift des innersyrischen bewaffneten Konflikts zwischen Armee und
Aufständischen. Wir zählen ein paar davon auf:
Schlussfolgerung:
In keinem Fall handelte es sich um gezielte Attacken der syrischen Streitkräfte
gegen türkische Ziele. Und: In den letzten Wochen sind kaum noch Vorfälle
dieser Art gemeldet worden. Man könnte auch sagen: Die Lage hat sich entspannt.
(4) Auch die
vereinzelte Luftzwischenfälle können nicht dazu herhalten, eine relevante
Gefährdung türkischen Territoriums durch Syrien zu behaupten. Die Beispiele:
(5) Wir
stellen fest: Kriegstöne aus Damskus gegen die Türkei sind nicht festzustellen.
Dagegen werden die Töne aus Ankara immer schriller. So warnte am 7. Oktober der
türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu, dass sein Land auf den
„andauernden Granatenbeschuss“ (von dem in Wahrheit keine Rede sein kann)
militärisch reagieren werde. Und Generalstabschef Necdet Özel erklärte
gleichzeitig: „Wenn das weitergeht, werden wir mit größerer Gewalt antworten.“
(6) Die NATO
ist ausschließlich ein Verteidigungsbündnis. Dies schreibt der NATO-Vertrag
zwingend vor. In Art. 1 heißt es unmissverständlich: „Die Parteien verpflichten
sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden
internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so
zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit
nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder
Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der
Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.“ Mit diesem Grundsatz verträgt sich
weder aggressives Reden noch aggressives Verhalten von NATO-Mitgliedern
gegenüber Drittstaaten. Ein Kriegsvorratsbeschluss, wie ihn das türkische
Parlament erlassen hat, widerspricht eindeutig den vertraglichen
Verpflichtungen, welche die NATO-Mitglieder eingegangen sind.
(7) Der
Verteidigungscharakter der NATO wird in sein Gegenteil verkehrt, wenn
Mitgliedstaaten in ihren aggressiven Vorhaben unterstützt werden. Dies scheint
uns eindeutig der Fall zu sein bei der Ankündigung des NATO-Generalsekretärs
vom 21. November, der Bitte der Türkei entsprechen zu wollen,
Patriot-Raketen-Einheiten an die türkisch-syrische Grenze zu entsenden. Die
Bundesregierung, die nach Meinung des zum „Sicherheitsexperten“ gewandelten
Außenministers Westerwelle alle Kriterien für eine positive Antwort auf das
türkische Hilfeersuchen erfüllt sieht, beteiligt sich aktiv an einer möglichen
Eskalation im türkisch-syrischen Grenzgebiet.
(8) Ein rein
militär-technisches Argument kommt hinzu: Das Patriot-Raketensystem ist nicht
in der Lage, Artilleriegeschosse oder Gewehrfeuer abzufangen; von der Qualität
aber waren die unter Punkt 3 geschilderten Grenzzwischenfälle. Patriots wurden
zum Zweck des Abschusses von Flugzeugen und ballistischen Raketen entwickelt.
Sie verfügen über eine sehr leistungsfähige Radaranlage, die präzise
Aufklärungsdaten auch über den bodennahen Luftraum noch aus einer Entfernung
von über einer 100 km ermöglicht – somit weit in syrisches Territorium hinein.
Bisher hat es keinen Vorfall gegeben, wo syrische Raketen oder Flugzeuge Ziele
außerhalb des eigenen Territoriums angegriffen hätten. Das legt den Schluss nahe,
dass mit der Stationierung der Patriot-Batterien - über die Überwachung des
syrischen Luftraums hinaus - noch weitere Ziele verfolgt werden. Die
Stationierung von Patriots liefert die technische Voraussetzung zur Einrichtung
einer „Flugverbotszone“. Dies aber wird nicht offiziell zugegeben, obwohl die
Türkei in der Vergangenheit mehrfach dafür eingetreten ist.
(9) Der rein
defensive Charakter des Patriot-Raketensystems muss aus strategischer Sicht
ebenfalls hinterfragt werden. Es ist ohnehin schwer, bei den modernen
Waffensystemen zwischen rein „defensiven“ und „offensiven“ Waffen zu
unterscheiden. Im vorliegenden Fall würde die Stationierung von NATO-Einheiten
an der syrischen Grenze eine weitere Konzentration militärischer Mittel
bedeuten, was nicht zur Entspannung beiträgt, sondern die Spannungen an der
Außengrenze der NATO verschärfen würde.
(10) Die
Abgeordneten des Deutschen Bundestags wären also gut beraten, nicht den
vollmundigen Unbedenklichkeitserklärungen der Regierung und ihrer außen- und sicherheitspolitischen
Vuvuzela Westerwelle zu glauben. Vielmehr sollte die aggressive Politik der
türkischen Regierung nach außen, aber auch nach innen (der Krieg gegen die
Kurden wird wieder mit aller Härte geführt) analysiert werden. Die einzige
Schlussfolgerung daraus kann nur sein: Keine Eskalation der türkisch-syrischen
Spannungen durch die Aufrüstung an der syrischen Grenze! Keine Bundeswehr in die
Türkei!
Für den
Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken
Peter Strutynski
Bei Rückfragen:
Strutynski: mobil 0160 976 28 972
Henken: mobil 0160 40 666 30