Lulu Wang Lulu Wang schreibt einen offenen Brief aus Anlass des Besuchs des Dalai Lama

(zur Person der in den Niederlanden lebenden chinesischen Schriftstellerin in den Anmerkungen)

 

Anfang Juni [2009] war der Dalai Lama in den Niederlanden. Danach hat er sich nach Frankreich begeben. Beide Länder haben ihn mit Hochachtung empfangen. Die chinesisch-niederländische Schriftstellerin Lulu Wang fühlte sich von diesem Ereignis bedrückt. Sie hat einen offenen Brief verfasst.

Mit ihrer Genehmigung veröffentlichen wir ihn nachfolgend.

 

 

Brief an gewisse Politiker und westliche Medien

La Haye, Niederlande, am 05. Juni 2009

 

Vor einigen Jahren, noch in China, habe ich gelernt, dass Politik und Medien im Westen offen wären. Und dass sich das Recht auf freie Meinungsäußerung nennen würde. Jetzt, wo ich im Westen wohne und arbeite, habe ich Ihnen einige Fragen zu stellen, und ich hoffe, dass Sie in der Lage sein werden, mir eine Antwort zu geben. Ich habe diesbezüglich das größte Vertrauen, dahingehend, dass Sie eine schöne Zukunft für uns alle wünschen. Als neue niederländische Staatsbürgerin möchte ich mich Ihren Schlussfolgerungen anschließen, eingeschlossen die Ihrer Annäherung an den Dalai-Lama.

 

Zwei unterschiedliche Bilder

Gestern Abend habe ich im Fernsehen ein Interview mit dem Dalai-Lama gesehen, der aktuell bei uns in den Niederlanden zu Besuch ist, und den Sie mit aller Hochachtung empfangen oder empfangen werden. Seine Rede hinterließ den Eindruck großer Weisheit, und der Mann erschien mir sympathisch. Daher kommt es, dass ein enormer Unterschied besteht zwischen dem Bild, das der holländische Zuschauer, mich eingeschlossen, aus dieser Sendung mitnimmt und dem Bild, das der Großteil der Chinesen von ihm hat. Woher kommt das Ihrer Meinung nach?

 

Weisheit

Es gibt Millionen Priester, Pastoren, Rabbiner, Imame, buddhistische Mönche, Taoisten und andere Religiöse in der Welt, die von Weisheit durchtränkte Dinge sagen und die sympathisch sind. Warum aber haben Sie gerade den Dalai-Lama mit solcher Ehrerbietung und der besonderen Aufmerksamkeit der Medien zum Empfang ausgewählt?

 

Frieden

Der Buddhismus ist in meinen Augen ein Glaube, der die Harmonie, den Frieden und die Nächstenliebe in der Gesellschaft herausfordert. Wenn die Taten und Gesten eines buddhistischen Mönches direkt oder indirekt, gewollt oder nicht, die Spaltung und Erbitterung zwischen seinen Brüdern und Schwestern in seinem Vaterland hervorrufen, desgleichen nur Konflikte und politische, ideologische und selbst ökonomische Verwerfungen im Ausland – sind Sie wirklich sicher, dass er sich nur mit Religion beschäftigt?

Staat und Kirche

Im Verlaufe der Jahrhunderte mit Höhen und Tiefen hat man in Europa verstanden, dass es besser wäre, Religion und Politik, Kirche und Staat zu trennen. Warum aber taugt diese Konzeption auf ein Mal nichts mehr, wenn es sich um eine innere Angelegenheit Chinas handelt? Tatsächlich will der Dalai Lama die Verfassung Tibets auf der Gottesherrschaft des Buddhismus ruhen lassen (siehe Kapitel 1, Artikel 3 der Charta der Exil-Tibetaner) (1).

 

Freiheit

China hat wiederholt dazu aufgefordert, den Dalai Lama nicht zu empfangen, und die Sache ist für China von nationaler Bedeutung. Ob China Recht hat oder nicht, hat hier in diesem Falle nichts zu sagen. Es ist sein gutes Recht, seine inneren Angelegenheiten nach seinem Verständnis zu regeln. Oder vielleicht nicht? Sie sind natürlich frei zu treffen, wen Sie wollen. Aber die Freiheit, die Sie in Anspruch nehmen, ist meiner Meinung nach nur erlaubt, wenn Sie gleichzeitig die Freiheit Chinas respektieren, sich selbst– nach seinem Dafürhalten – gegen Gefahren zu schützen.

Wenn Sie nur auf Ihre eigene Freiheit pochen und die Chinas negieren, greifen Sie da nicht einen Begriff der extremen Art von Freiheit auf? Sagen Sie uns nicht oft, dass religiöser Extremismus gefährlich ist? Und wir uns diesbezüglich wachsam zeigen sollten? Wie also ist es mit dem Extremismus im Freiheitsbegriff zu verstehen? Wenn Ihre ungegrenzte Freiheit die Vergewaltigung der Rechte Chinas bedeutet, müssen wir uns vor Ihnen nicht auch in Acht nehmen?

 

Hunderte Länder und 55 Völker

Es gibt hunderte Länder auf der Welt und 55 Völker in China, unter ihnen meine tibetanischen Brüder und Schwestern. Wo es Menschen gibt, gibt es Meinungsverschiedenheiten und Streit. Was führt Sie zu der Entscheidung, unter den hunderten Ländern Ihr lebhaftestes Interesse einem Mönch aus China zu schenken und, unter den 55 chinesischen Völkern , nur dem des Tibet? Was ist mit den Problemen, die mitunter zwischen den 54 anderen Völkern Chinas auftauchen? Werden Sie alle für sie lösen? Oder gibt es einen besonderen Grund, dass Ihre Wahl auf Tibet gefallen ist? Gestern konnte man im Teletext lesen, dass die Vereinten Nationen von China Informationen über die Toten vom 4. Juni 1989 fordern. Das wirft bei mir Fragen auf. Auf eine Art wollen Sie lang und breit wissen, was in China geschieht. Wenn China aber Ihrer Meinung nach auf eine „wenig glaubwürdige“ Art auf Ihre Anfrage antwortet, setzen Sie es nach Bedarf unter Druck, mit oder ohne Hilfe der Vereinten Nationen. Andererseits aber, wenn China um Erklärungen ersucht in einer wichtigen Frage, warum geben Sie sie nicht immer an Ihr Volk und Ihre Öffentlichkeit weiter, zumal Sie in detaillierter und wiederkehrender Art Informationen, Diskussionen und Debatten zu anderen Angelegenheiten Chinas organisieren? Und je heißer das Thema, um so besser.

 
Wenig an Informationen

Meine Freunde und Bekannten in Holland sagen, dass der Dalai Lama nicht die Unabhängigkeit, sondern eine größere Autonomie für Tibet wünscht. Ich habe sie gefragt, woher sie das haben, und sie haben mir geantwortet: Aus den Medien. Sie, und gleichermaßen die wissbegierigen holländischen Journalisten, täten besser dran, mich zum Dalai Lama zu interviewen. Sie wissen nichts darüber, was China ausländischen Reportern zu den durch den Dalai Lama und seine Organisation zugunsten eines autonomen Tibets gestellten Bedingungen während einer internationalen Pressekonferenz am 07.März 2009  erklärt hat:

 

  1. Sie wollen ein Viertel Chinas haben – ein fünf Mal größeres Territorium als das Frankreichs, das sie Dazang Qu (die Groß-Tibet) nennen (2)
  2. Sie wollen aus diesem „doppelten Territorium“ die Chinesen ausweisen, die nicht zur Gruppe der tibetischen Bevölkerung gehören, die aber dort seit Generationen, seit Hunderten, selbst tausend Jahre leben und arbeiten (3)
  3. Sie wollen den Abzug der chinesischen Armee aus diesem Gebiet.

 

Was meine Freunde und Bekannten in den Niederlanden ebenfalls nicht wissen:

 

Am 10. März 2009, drei Tage nach der angeführten Pressekonferenz, leugnete der Dalai Lama im Verlaufe einer neuen Pressekonferenz, dieses Mal in Indien, dergleichen jemals gesagt zu haben. Er forderte die chinesische Regierung auf, Beweise zu seiner angeblichen Rede vorzulegen.

 

Drei Tage später, am 13. März 2009, forderte ein französischer Journalist im Verlaufe einer internationalen Pressekonferenz in China diese Beweise beim Präsidenten Hu Jintao ein, der sie ihm lieferte. Es erwies sich, dass der Dalai Lama zwei Pläne angekündigt hatte, davon einen (getauft Xizang Wudian Heping Jihua) im Jahre1987 in den USA und den anderen (getauft Qidian Xin Jianyi) im Jahre 1988 in Strasbourg. Man findet hier schwarz auf weiß die oben vom Dalai Lama und der von ihm geleiteten Organisation genannten Punkte. Man könnte glauben, dass der Dalai Lama vergessen hat, es jemals gesagt zu haben.

 

1. Gleichwohl ist 2005 in einer mit Zhongjian Xuanchuan Shouce betitelten – und durch die vom Dalai Lama geleiteten Organisation redigierten Broschüre – zu lesen, dass die obengenannten Punkte das Resultat eines demokratischen Verfahrens sind, mit anderen Worten: Dass sie auf keinen Fall modifiziert werden können. (4)

 

2.  Am 27. Oktober 2008, drei Tage vor dem dritten Treffen zwischen der betreffenden Instanz der chinesischen Autoritäten und den Repräsentanten des Dalai Lama hatte ein Sprecher der vom Dalai Lama geleiteten Organisation während eines Interviews mit Duli Zhongwen Bihui in Indien die vom Dalai Lama vorgebrachten Punkte wiederholt. Und hinzugefügt: Die nicht zur tibetischen Bevölkerungsgruppe gehörenden Chinesen können nicht Funktionäre in Tibet werden.

 

3. Im November 2008 haben die Repräsentanten des Dalai Lama nach einer neuen Serie von Verhandlungen mit den chinesischen Autoritäten in ihrem an die chinesische Regierung gerichteten Memorandum wissen lassen, dass sie sich selbst sowohl mit dem Erlass als auch mit der Anwendung der Gesetze in Tibet befassen wollen. (5)

 

Auch das ist ein Grund, weswegen ich gern eine Diskussion mit meinen Freunden und Bekannten der Niederlande beginnen möchte. Wir sprechen darüber, als ob es sich nur um den Dalai Lama und / oder nur Tibet handeln würde, und bleiben trotz unserer besten Absichten nur zerstritten. Das liegt daran, dass sie nicht über die gleichen Informationen wie ich verfügen können, weil ich Chinesisch verstehe und mir die Informationen direkt auf chinesischen Seiten suchen kann.

 

Ein autonomes Tibet

Wenn die nicht zur Gruppe der tibetischen Bevölkerung gehörenden Chinesen nicht in Tibet – was ein Teil Chinas ist – zum Wohnen und Arbeiten bleiben können, und wenn die chinesische Armee nicht mehr in Tibet bleiben darf, können wir dann noch von einem autonomen Tibet innerhalb Chinas sprechen?

Wenn Sie, die Politiker, vor der Zweiten Kammer einen Gesetzesvorschlag folgender Art einbringen:

-         die Limburger dürfen nicht in Brabant wohnen und arbeiten,

-         die Einwohner Maastrichts, die sich seit 1800 in Breda eingerichtet haben, müssen in ihre Ursprungsdörfer zurück geschickt werden,

-         die niederländische Armee darf nicht mehr in Nijmegen stationiert werden

-         Gelderland darf seine eigenen Gesetze erlassen und anwenden;

 

denken Sie, dass dieser Gesetzesvorschlag die geringste Chance bei Ihren Wählern hätte? Wenn nicht, warum sollten dann Ihre chinesischen Politikerkollegen diese Art Forderungen begrüßen?

 

Selbst wenn die chinesische Regierung die Forderungen des Dalai Lama unter Druck des Westens akzeptieren und ein Viertel Chinas zugunsten seiner tibetischen Brüder und Schwestern räumen würde, glauben Sie, dass das Gros der Milliarde Chinesen diese Entscheidung der Regierung anerkennen würde? In diesem Fall gäbe es nicht nur eine Regierungskrise, sondern zweifelsohne auch einen Volksaufstand. Wer hätte einen Vorteil davon? Ich bin überzeugt, dass Sie selbst nicht dergleichen wünschen.

 

Können Sie sich angesichts des eben Ausgeführten vorstellen, dass die Chinesen sich über ein „autonomes“ Tibet, wie es sich die vom Dalai Lama geführte Organisation wünscht, große Sorgen machen? Können Sie verstehen, warum sich die chinesische Gemeinde in den Niederlanden niedergeschlagen fühlt, selbst in Wut gerät angesichts der Art, in der Sie hier den Dalai Lama empfangen und von seiner Person reden?

 

An Stelle einer Schlussfolgerung

Ich möchte Ihnen einige Dinge über mich erzählen. Seit dem Sommer 2008 habe ich beschlossen, nicht mehr an Diskussionen und Debatten im Fernsehen oder Radio in den Niederlanden teilzunehmen. Warum?

Dieses Mal gebe ich Ihnen eine Antwort auf meine Frage:

Ich habe den Eindruck, dass der Anteil meiner zugunsten Chinas ausfallenden Erklärungen nicht beachtet wird, nicht von rechts und nicht von links, nicht innerhalb und nicht außerhalb der Sendungen. Man beschuldigt mich, eine „Botschafterin Chinas“ und „von China hierher gesandt worden zu sein, um die Niederlande zu beeinflussen“.

 

Gewisse Personen schreien selbst : Kehr doch zurück in dein Land, wenn du es so fabelhaft findest! Und infolge solcher Fakten bin ich vorsichtig geworden.

Ich bin genau genommen sehr kritisch hinsichtlich des aktuellen Verlaufs der Dinge in China. Die acht von mir geschriebenen Bücher sprechen unter anderem von Unvollkommenheiten meines Ursprungslandes. Zur Zeit arbeite ich an meinem neunten Buch, wieder einem Roman, der die Fehler Chinas nicht verschweigt.

Wegen meiner Kritiken bezüglich Chinas werde ich genau genommen hier nie schief angesehen. Man könnte sagen, dass ich hier tatsächlich ausschließlich kritische Fragen zu China stellen darf, aber nicht zu den Niederlanden. Sollte das etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung sein? Die Freiheit, innerhalb einer bestimmten Umwelt eine Meinung wiederzugeben – ohne dafür gescholten zu werden?

Oder habe ich falsche Vorstellungen?

 

 

Ich hoffe auf ein künftiges  Einvernehmen und dass wir einen Schlussstrich unter diese Kalte-Kriegs-Mentalität ziehen, um endlich eine neue Epoche der Kommunikation und des gegenseitigen Verständnisses zu eröffnen, zumal ein kalter Krieg in einen heißen und selbst brennenden übergehen kann. In diesem Kriege gibt es keine Sieger. Lasst uns deshalb alle Kriege zwischen Ländern und Völkern beenden.


 Ich bete für den Frieden

 

Mit die tiefe Achtung des anderen einschließenden friedlichen Grüßen


©Lulu Wang

 
www.luluwang.nl 
luluwanggz@luluwang.nl 

 

Autor von:

Das Seerosenspiel (seit 1997 mehrere Auflagen), [nur noch gebraucht bei Amazon, d. Ü.]

Heldere maan (Lune claire – 2007), Bedwelmd (Étourdie – 2004), Het Rode Feest (La fête rouge – 2002), Seringendroom (Rêve de lilas – 2001), Het Witte Feest (La fête blanche -2000), Het tedere kind (Le tendre enfant – 1999), Brief aan mijn lezers (Lettre à mes lecteurs –1998), Het lelitheater (Le théâtre des nymphéas – 1997) Wilde rozen (2010)

 
Anmerkungen :

 

(1)   Die Charta zeigt ebenfalls detailliert, dass der Dala Lamai eine außerordentliche exekutive Macht erhält und die tibetische Staatsangehörigkeit an die tibetische Volksgruppe gebunden ist.

(2)   In der Tat ein Gebiet, über das die früheren Dalai Lamas nie geherrscht haben.

(3)   Etwa zehn Millionen „andere“ (Han, Hui, Yi, Nu, Lisu, Salar, Mongolrn, Naxi und einige Dutzend kleinere Gruppen)  leben seit sehr langer Zeit im „Ausbreitungsgebiet“, das der Dalai Lama zum aktuellen Tibet fordert und das eine unwahrscheinliche multikulturelle Landschaft darstellt.

(4)   Siehe auch das „« Memorandum on genuine autonomy for the Tibetan people » (Memorandum über eine wahrhafte Autonomie des tibetischen Volkes) der Repräsentanten des Dalai Lama und den zu diesem Thema am 21.11.2008  in Xinhua Press veröffentlichten Artikel: « On de Memorandum of de Dalai Clique » (Zum Memorandum der Dalai Lama-Clique).

(5)   Man kann den größten Teil der in diesem Brief zitierten Informationen  auf holländischen und/oder chinesischen Webseiten finden (unter letzteren sind viele auf Englisch)

 

Zitate:

„Der 14. Dalai Lama erlaubt sich politische Reden wie nur wenige religiöse Würdenträger. Kürzlich unternahm er eine Rundreise durch die USA. Am 5. Mai gaben ihm 120 bekannte chinesische Dissidenten in einem New Yorker Luxushotel die Ehre. Er gab seinem chinesischen Publikum keine ‚Einführung in den Buddhismus’, sondern hat dessen Wunsch, die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) der Macht zu entheben, seine Unterstützung zugesagt. ‚Die KPCh hat lange genug regiert. Es ist Zeit für sie, in Rente zu gehen,’ hat der Dalai Lama erklärt“, übermittelt uns Jean-Paul Desimpelaere im Mai 2009. Seine Quelle: Asia Times Online, 21. Mai 2009, und Voice of America, 30. April 2009.

 

„Wir sind hier im Namen der Menschenrechte beschäftigt mit der Verteidigung eines absolut herrschenden theokratischen Regimes in den Händen eines einzelnen Führers und mit einem Programm der ethnischen Säuberung. Das schlimmste ist, dass wir uns darüber keine Rechenschaft ablegen,“ hat der französische Senator [zu der Zeit noch PS, d. Ü.] Jean-Luc Mélenchon  im April 2008 in Paris erklärt.

 

Übersetzung aus dem Französischen aus infochina.be von Gudrun Stelmaszewski