Israel-Palästina-Friedensabkommen
gefordert
Israel fürchtet europäische
Boykotte - Gratwanderung mit Gegenwind
In Israel wächst die Sorge
angesichts zunehmender europäischer Boykotte. Die Regierung Netanjahu weiß noch
nicht, wie sie damit umgehen soll.
von Hans-Christian Rößler,
Tel Aviv am 31.1.2014
Jair Lapid widmete dem Thema
eine ganze Rede. Zum Abschluss der Konferenz des wichtigsten israelischen
Forschungsinstituts bereitete der Finanzminister vor Kurzem seine Landsleute
auf schwere Zeiten vor: Es gehe nicht darum, dass der französische Camembert
bald mit Verspätung in Israel ankomme, sagte er. Sollten die Friedensgespräche
mit den Palästinensern scheitern, drohe ein europäischer Boykott, den jeder
Israeli in seinem Geldbeutel spüren werde. Lapid schloss auf der
INSS-Jahreskonferenz nicht aus, dass die EU sogar ihr Assoziierungsabkommen mit
Israel kündigen könnte. Tausende Arbeitsplätze und Exporterlöse im Wert von
mehreren Milliarden Dollar könnten Israel dann verlorengehen, denn die
Europäische Union ist der wichtigste Handelspartner des Landes.
Bisher zogen sich nur private
Unternehmen aus Israel zurück oder erwägen diesen Schritt, weil sie die
Siedlungspolitik der Regierung Netanjahu ablehnen. Zu Jahresbeginn verkaufte
der niederländische Pensionsfonds PGGM seine Anteile an fünf großen
israelischen Banken, weil die Kreditinstitute auch in den Siedlungen aktiv
sind. Der niederländische Pensionsfonds ABP, der zweitgrößte auf der Welt, und
zwei nordeuropäische Fonds prüfen derzeit, ob sie dem Beispiel von PGGM folgen.
Im vergangenen Jahr hatte schon das niederländische
Wasserversorgungsunternehmen Vitens seine Zusammenarbeit mit den israelischen
Wasserwerken Mekorot eingestellt, weil sie auch die besetzten Gebiete mit
Wasser versorgen.
Zusammenarbeit wird verweigert
Diese ersten Rückzüge
europäischer Firmen hält die israelische Regierung für besonders
besorgniserregend, denn sie treffen Israel und nicht mehr nur die Siedlungen im
Westjordanland. Auch die Siedler bekommen immer stärker zu spüren, dass
Europäer ihre Produkte meiden: Israelische Bauern berichten aus dem fruchtbaren
Jordantal, dass sie im vergangenen Jahr fast zwanzig Millionen Euro weniger
durch ihre Exporte verdienten. Nach offiziellen Angaben war dort ein Rückgang
von 14 Prozent zu verzeichnen. Über zunehmende Boykotte klagen auch israelische
Akademiker. Vor allem in den Vereinigten Staaten und Großbritannien wollen
Universitäten und Berufsverbände aus Protest gegen den Siedlungsbau nicht mehr
mit ihren israelischen Kollegen zusammenarbeiten.
Diese Entwicklung beunruhigt
mittlerweile auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Er bat seine
wichtigsten Minister sowie Vertreter der Geheimdienste zu einem Krisentreffen.
Doch die israelische Regierung ist sich selbst noch nicht schlüssig, wie sie
mit der neuen Bedrohung umgehen soll. Vor Lapid war schon Justizministerin Zipi
Livni, die zugleich israelische Chefunterhändlerin in den Friedensgesprächen
mit den Palästinensern ist, an die Öffentlichkeit gegangen. Lapid gab selbst zu,
dass Warnungen wie seine jüngste Rede eine Gratwanderung darstellten. Deshalb
zitierte er nur auszugsweise aus einem ausführlichen Bericht, den sein
Ministerium verfasst hatte: Er wolle Boykott-Befürworter nicht „auf neue Ideen“
bringen, sagte Lapid.
Kritik ließ trotzdem nicht
lange auf sich warten. So bezweifeln israelische Diplomaten, dass die EU das
Assoziierungsabkommen wirklich kündigen werde. Livni wurde vor allem von der
israelischen Rechten vorgeworfen, dass sie die Boykott-Gefahr nur noch erhöhe,
indem sie öffentlich darüber rede. Wirtschaftsminister Naftali Bennett von der
nationalreligiösen Partei „Jüdisches Heim“ sagte, die Gründung eines
Palästinenserstaats würde dem jüdischen Staat im Vergleich zu Boykotten
wirtschaftlich viel stärker schaden: Aus Palästina würden Terroristen bald
Israel angreifen und seine Wirtschaft lahmlegen. Mit Boykotten sei man dagegen
in Israel immer fertig geworden, sagte der Wirtschaftsminister, dessen Partei
den Siedlern nahesteht.
Große Angst vor einem diplomatischen Dammbruch
Erschwerend kommen
Kompetenzstreitigkeiten in der israelischen Regierung hinzu. Strategieminister
Juval Steinitz, der angeblich lieber Außenminister geworden wäre, möchte für
den Kampf gegen die Boykotte zuständig sein – und verlangt angeblich für sein
kleines Ministerium zusätzlich 100 Millionen Schekel. Die Gefahr kann deshalb
für manche nicht groß genug sein. Es fiel auf, dass die israelische Presse
zuletzt mehrmals dazu mit Informationen aus Regierungskreisen versorgt wurde.
So erregte in der vergangenen Woche ein Zeitungsbericht Aufsehen, in dem
ungenannte israelische Regierungsvertreter sogar der befreundeten
Bundesregierung eine „signifikante Eskalation“ beim Siedlungsboykott vorwarfen.
Deutschland und Israel verhandeln derzeit über die Verlängerung zweier Abkommen
über die wissenschaftliche Zusammenarbeit. Die Bundesregierung beharrt auf
ihrer bisherigen Linie und besteht auf einer sogenannten Territorialklausel,
wonach Siedlungen nicht von deutschen Mitteln profitieren sollen. Derzeit diskutierten
Juristen über Formulierungen und nicht über die Substanz, heißt es in
Jerusalem. Finanzminister Lapid äußerte sich dennoch „schockiert“ darüber, dass
es zu diesen Differenzen ausgerechnet mit Deutschland gekommen sei, von dem er
„aus den bekannten Gründen“ mehr Rücksicht erwartet hätte.
Auch wenn es hier nur um das
besetzte Westjordanland geht, ist in Israel die Angst vor einem diplomatischen
Dammbruch groß. Man befürchtet, dass das Beispiel Deutschlands andere
EU-Mitglieder dazu ermutigen könnte, bald auch die neue Kompromissformel in
bilaterale Verträge zu übernehmen, die in letzter Minute im Streit über die
Förderrichtlinien der EU-Kommission gefunden wurde. Die israelische Regierung
hatte sich monatelang dagegen gewehrt, dass die EU-Kommission so deutlich wie
nie zuvor klarstellte, dass das besetzte Westjordanland, Ostjerusalem und die
Golanhöhen kein Teil Israels seien und deshalb keine Fördergelder erhalten
dürften. In Israel hofft man, für die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der
Bundesregierung einen Wortlaut zu finden, der nicht mit dem ungeliebten
EU-Kompromiss identisch ist.