Jahrestag Sabra Shatila

Said Dudin


Beirut, 18. September 1982


Im Sportstadion der libanesischen Hauptstadt, inmitten der schon bei den
israeli­schen Luftangriffen in den ersten Junitagen verwüsteten
Zuschauerränge, sammeln sich Überlebende der letzten beiden Tage. Bewaffnete
der libanesischen Rechtsmili­zen treiben sie heran. Im Stadion sortiert der
israelische Geheimdienst jene, denen der Tod erspart geblieben ist, jene,
die nicht in den Ruinen von Sabra oder Chatila erschossen oder erschlagen
wurden. Wer von den Bewohnern der beiden palästi­nensischen Flüchtlingslager
im südöstlichen Beirut noch einmal Glück hat, erhält einen Stempel in seine
Identitätskarte. Er darf gehen. Die anderen werden auf Last­wagen
fortgeschafft, nach Süden, ins Lager al-Ansar.

Der Korrespondent des amerikanischen Nachrichtenmagazins "Time" beobachtet:
"Am Stadion fragte ein israelischer Offizier über Lautsprecher, ob jemand
aus Chatila anwesend sei. Einige Leute melden sich. Als sie erzählen, was
dort geschehen ist, reißt der Offizier sein spitze s Käppchen vom Kopf und
schleudert es mit einem wil­den Fluch auf die Erde."

Was ist geschehen? Woher der Zorn des israelischen Offiziers?

Die ersten ausländischen Journalisten gelangen nach Sabra und Chatila. Die
könn­ten die Erklärung geben.

Robert Fisk in der Londoner "Times": "Ich fand ein kleines, unzerstörtes
Haus mit einem braunen Metalltor, das zu einem engen Hof führte. Irgendein
Instinkt ließ es mich öffnen. Die Mörder waren gerade gegangen. auf dem
Boden lag dort eine junge Frau. Sie lag auf dem Rücken, als würde sie in der
Hitze ein Sonnenbad nehmen, und das Blut, das unter ihrem Rücken hervorlief,
war noch nass. Sie lag, die Füße zusammen, die Arme ausgestreckt, als habe
sie in ihrem letzten Augenblick ihren Retter gesehen. Ihr Gesicht war
friedlich, die Augen geschlossen, wie eine Madonna. Nur ein kleines Loch in
ihrem Leib und die Flecken auf dem Hof erzählten von ihrem Tode."

Gerd Schneider, der Korrespondent des Österreichischen Rundfunks beobachtet:
"Einige Leichen waren an den Händen gefesselt. Obwohl die Toten in der
prallen Sonne bereits in Verwesung übergegangen waren, ließen sie noch immer
Merkmale von Verstümmelungen erkennen: durchgeschnittene Kehlen,
zertrümmerte Gesichter und Fehlen der Glieder. Vieles deutet auch darauf
hin, dass ganze Familien ausge­löscht wurden, während sie beim Abendessen
saßen ..."

Nicht einmal drei Wochen sind vergangen, seit die letzten Kämpfer der PLO
West-Beirut verlassen haben. Die Führung der palästinensischen
Widerstandsbewegung hatte erst dann in einen Abzug eingewilligt, als sich in
den Papieren, die Philip Habib, der Sonderbeauftragte des amerikanischen
Präsidenten, mit dem libanesischen Ge­neral Nabil Kuraitim vereinbaren
wollte, eine Garantie fand, eine Versicherung für all die zurückbleibenden
palästinensischen Zivilisten, für die Mütter, Frauen, Schwes­tern und Kinder
der ausziehenden Verteidiger.

Der entscheidende Satz lautete schließlich: "Die Regierungen Libanons und
der Ver­einigten Staaten werden angemessene Garantien für die Sicherheit der
gesetzes­treuen palästinensischen Zivilisten leisten, einschließlich der
Familien jener, die das Land verlassen." Und dann weiter im Text der
Habib-Papiere: "Die libanesische Re­gierung wird ihre Garantien auf der
Basis von Zusicherungen leisten, die sie von be­waffneten Gruppen erhalten
hat, mit denen sie in Kontakt stand. Die Vereinigten Staaten werden ihre
Garantien auf der Basis von Zusicherungen leisten, die sie von der Regierung
Israels und der Führung gewisser libanesischer Gruppen, zu denen es Kontakte
gab, erhielten."

Alles klar: Israel und die libanesischen Rechtsmilizen haben zugesagt, den
palästi­nensischen Zivilisten kein Haar zu krümmen, und die USA verbürgten
sich dafür. Garantieren sollte dies auch die Anwesenheit der Multinationalen
Streitmacht, der ameri­kanischen Marines, der französischen Fremdenlegionäre
und der italienischen Ber­saglieri mit den Hahnenfedern an den Helmen. Sie
sollten eigentlich bis zum 21. September in Beirut bleiben. Der
amerikanische Diplomat George Ball schreibt spä­ter: "Wir haben unser
eigenes gutes Vertrauen in Israels Ehrenwort gesetzt, sonst hätte die PLO
niemals eingewilligt, abzuziehen. Die PLO-Führer vertrauten Amerikas
Versprechen, das Allermöglichste zu tun, um zu sichern, dass Israel seine
Versprechen hält ... Sie hätten niemals einem israelischen Versprechen
getraut, aber uns trauten sie. Wir haben sie betrogen.“

Der Krieg war also vorbei. Ruhe herrschte in Beirut. In den Lagern von
Chatila und Sabra hörte man das Kreischen der Sägen, das Klopfen der Hämmer.
Provisorisch wurde instand gesetzt, was instand zu setzen war.

Der Krieg war vorbei. Am 9. September hatte Philip Habib seinen
wohlverdienten Urlaub angetreten. In Washington war er zuvor noch von Ronald
Reagan mit dem höchsten amerikanischen Zivilorden, der "Freiheitsmedaille"
ausgezeichnet worden, ja, man sprach sogar vom Friedensnobelpreis. Schon am
8. September hatten die amerikanischen Soldaten begonnen, Beirut zu
verlassen, am 11. folgten die Franzo­sen und am 13. die Italiener.

Nur einen Tag später, am 14. September war Beirut wieder vom Dröhnen einer
ge­waltigen Detonation aufgeschreckt worden. Um 16 Uhr 1O erhob sich eine
Rauch- und Staubwolke über dem Stadtviertel Ashrafije im Ostteil der Stadt,
im "Christen­viertel", das bislang von diesem Krieg verschont geblieben war.
Unweit des Hafens stürzte ein mehrstöckiges Haus in sich zusammen.
Ambulanzen jagten mit heulen­den Sirenen zu der Stelle, wo - wie man später
ermittelte - fünfzig Kilo TNT gezündet worden waren.

Im 1. Geschoss des in sich zusammengefallenen Gebäudes hat sich ein
Hauptquar­tier der Phalange-Partei befunden. Hier hatte um 16 Uhr eine
Beratung der Kom­mandeure der Lebanese Forces begonnen. Zugegen war der
vorherige Oberkom­mandierende, Bechir Gemayel, der neu gewählte Präsident.

Die erste Meldung, die die Nachrichtenagenturen um die Welt funkten,
lautete, es habe zehn Torte gegeben: "Gemayel entging dem Anschlag
unverletzt. Er wurde sofort in Sicherheit gebracht.

In der Gerüchteküche Beirut begannen sofort die Spekulationen. Wer waren die
Tä­ter? Wer konnte ein Interesse an dem Tod des künftigen Staatsoberhaupts
haben?

Keine Frage, Bechir Gemayel hatte Feinde in Hülle und  Fülle. Unvergessen
waren die blutigen Machtkämpfe unter den Maroniten, bei denen Bechir in die
Familienclans der Franjieh und der Chamoun blutige Lücken geschlagen hatte.
Dass er Feinde über Feinde im muslimischen Lager hatte, wusste jeder. Dass
sein Verhältnis zu den Syrern vornehm ausgedrückt "gespannt" war, wer wollte
es in Frage stellen. Und seit dem Treffen mit Begin in Naharija wusste man,
auch mit den Israelis gab es Pro­bleme. Jetzt erinnerte man sich, dass
Gemayel unmittelbar nach seiner Wahl ein, wie es hieß, ein "historisches" Treffen
mit einigen Führern der muslimischen Gemeinschaft gehabt hatte. Der neue
Präsident, meinte die "New York Times", habe es in kürzester Zeit fertig
gebracht, einige führende Köpfe der Moslems dazu zu bringen, den Sieg der
Phalangisten zu akzeptieren im Interesse einer "Einigung zum Wohle des
Liba­non". Das hätte sicherlich die Rückkehr zu den Zuständen vor dem
Ausbruch des Bürgerkrieges bedeutet, zu den Zuständen also, die den
Bürgerkrieg ausgelöst hat­ten. Zugleich aber wäre das endgültige Aus für den
"Großen Plan" von Sharon und Begin gewesen. Es scheint übrigens, als habe
Ariel Sharon das alles kommen se­hen, wenn er am 4. September bekannt
gegeben hatte, Israel beabsichtige, eine "Sicherheitszone" im Südlibanon
einem "Spezialstatus" zu unterwerfen, sprich: vom Territorium des
libanesischen Staats abzuzwacken, dem Einfluss des künftigen Prä­sidenten zu
entziehen.

14. September, 19 Uhr. Noch hatten die Suchtrupps in den Trümmern des
Phalange-Hauptquartiers keine Spur von Bechir Gemayel entdeckt, noch glaubte
man überall der Nachricht, der Präsident in spe habe den Anschlag überlebt,
da rief der Kom­mandeur der israelischen Streitkräfte im Libanon, der
47jährige Brigadegeneral Amos Drori seine Offiziere zu einer dringenden
Besprechung. Er gab den Befehl, alles Nötige für einen schnellen Einmarsch
in West-Beirut vorzubereiten.

Um 21 Uhr, noch immer war nicht sicher, was mit Gemayel war, bestellte Ariel
Sharon den Generalstabschef Rafael Eitan in sein Büro in Jerusalem. Was
General Drori in Beirut schon richtig geahnt hatte, jetzt wart der Befehl :

Sofort die Beset­zung aller Scnlüsselpositionen in West-Beirut
vorzubereiten. West-Beirut war seit dem Abzug der Italiener am Vortag ein
Vakuum, jedenfalls in israelischer Sicht. Linksmilizen beherrschten den
Stadtteil.

Bei der Gelegenheit hatte Sharon auch gleich darauf hingewiesen, nicht die
israeli­schen Streitkräfte, sondern die "christlichen" Milizen würden in die
palästinensischen Flüchtlingslager einrücken. Aber diese Mitteilung behielt
Eitan für sich, als er wenig später mit Ministerpräsident Bergin sprach, und
als dieser meinte, man müsse die Moslems vor der Rache der Phalangisten
schützen.

Das Thema eines Einmarsches in West-Beirut hatte den israelischen
Verteidigungs­minister schon seit Wochen bewegt. Noch zwei Tage vor der
Explosion in Ashrafije, am Abend des 13. September, hatte Sharon  mit Bechir
Gemayel darüber gespro­chen. Es war über die künftigen
israelisch-libanesischen Verhandlungen debattiert worden und - aufgemerkt! -
über die "Reinigung West-Beiruts". In beiden Punkten hätte es
Übereinstimmung gegeben, schreibt Zeev Schiff. Der israelische Journalist
fügt hinzu: "Sharon wollte sicher sein, dass die libanesische Armee schnell
in Beiruts Flüchtlingslager einrücken würde und verlangte, dass gleichzeitig
phalangistische Einheiten hineingeschickt würden." Bechir Gemayel hätte sich
dafür ausgesprochen, alle Spuren der Lager im Süden Beiruts auszulöschen und
an ihrer Stelle einen "enormen Zoologischen Garten" anzulegen. Die Bewohner
der Lager soll man in Busse laden und zur syrischen Grenze schaffen. Schiff:
"Beide Männer wussten na­türlich, dass dieser Plan eine totale Verletzung
des Abzugs-Abkommens darstellte..."

Aber Abkommen hin, Abkommen her - von einer "Endlösung" der
Palästinenser-Frage, von einer endgültigen Austreibung der Flüchtlinge,
immer weiter weg von Israels Grenzen, waren einige zionistische Politiker
nun mal besessen. Der Libanon­krieg hatte alten Gedanken einen neuen Impetus
gegeben.

Am 10. Juni war in einer Sitzung des Außenpolitischen und
Verteidigungsaus­schusses der Knesset von Menachem Begin in einem Nebensatz
der  "Transfer" der Palästinenser aus dem Südlibanon erwähnt worden. Später
hatte der Premier die Anweisung erteilt, den Wiederaufbau zerstörter
Flüchtlingslager zu verhindern. Der neu ernannte israelische
Militärgouverneur für den Südlibanon, Generalmajor David Maimon, sagte am
13. Juni seinen  Leuten, man solle die Zerstörung der Lager als einen zwar
unbeabsichtigten, aber willkommenen Erfolg des Krieges werten. Und hatte
nicht schließlich Minister Ya'acovc Meridor versucht, Druck auf die
libanesi­schen Behörden auszuüben, damit sie die Lager auflösten ?

Wer so etwas dachte, hatte keinen, aber auch gar keinen Sinn für und
Warnungen. Da hatte beispielsweise am 12. August - man verhandelte noch über
den PLO-Abzug - Armee-Geheimdienstchef Saguy bei einem Treffen in Sharons
Büro in Jerusalem gesagt, auch nach dem Abrücken würden noch "Terroristen in
Beirut verbleiben", aber  "die Phalange wird einen Weg finden, sie zu
schnappen und alte Rechnungen mit ihnen zu begleichen. eines Tages werden
die Morde beginnen und weitergehen und weitergehen ohne Ende." Den
Geheimdienstchef hatten bei diesem Szenarium offenbar nicht so sehr die zu
erwartenden Toten gestört, sondern die mögliche Ver­antwortung. Er hatte
nämlich dringlich empfohlen, sich da rauszuhalten. Am besten sei es, aus
Beirut abzuziehen. Solle doch die Multinationale Streitmacht zusehen, wie
sie mit dem Massaker fertig würde.

Solche Überlegungen wurden nun ganz aktuell, wenn das bislang von den linken
Mi­lizen kontrollierte West-Beirut besetzt werden könnte.

zunächst einmal aber entdeckte am 14. September um 23 Uhr ein israelischer
Offi­zier (ein israelischer Offizier!) auf dem Trümmerberg in Ashrafije den
Leichnam Bechir Gemayels. Der schwer verstümmelte Körper konnte nur an dem
Trauring des designierten Präsidenten identifiziert werden.

Und noch immer wusste man nicht, wer die gewaltige Sprengladung gezündet
hatte. Das von der Phalange schwer bewachte Haus konnte weder unbemerkt noch
von Unbekannten oder unkontrolliert betreten werden. Deshalb meinen später
Beobach­ter zu israelischen Anschuldigungen, die PLO und die Linksmilizen,
die da verdäch­tigt wurden, seien "überhaupt nicht fähig gewesen, einen
solchen Anschlag im Machtbereich Gemayels auszuführen".

Fünf Tage später hat die in dem von der Phalange beherrschten Ost-Beirut
erschei­nende Zeitung "l'Orient - Le Jour" unwidersprochen die Version
verbreitet, Sharon habe die Bildung eines speziellen "Kamikaze-Kommandos"
aus jungen ausgewählten Leuten der Lebanese Forces angeordnet, das Gemayel
töten sollte. diese Variante klang abenteuerlich, womöglich zu
abenteuerlich, um wahr zu sein. Aber sie belegte zumindest die weitere
Entfremdung eines Teils der libanesischen Rechten von den Israelis.

Verhaftet wird schließlich der Student Tanios Chartouni. Seine Großeltern
lebten in einem Obergeschoss des zerstörten Gebäudes. Sein Bruder war ein
Leibwächter Gemayels. Chartouni konnte in das Haus gelangen, ohne Verdacht
zu erregen. Schließlich gesteht er. Er habe in "Kontakt mit einer
ausländischen Macht gestan­den". Niemand wird je präzisieren, mit welcher.

Libanons Ministerpräsident Wazzan hatte um Mitternacht den Tod Gemayels
offiziell bekannt gegeben. Das israelische Kabinett hatte die Armee
ermächtigt, in West-Beirut einzumarschieren.

Am 15. September rückten die Israelis im Morgengrauen auf vier Achsen vor.
Ihre Panzer fuhren vom Hafen aus an der Küstenstraße entlang. Eine zweite
Kolonne stieß vom Flugplatz aus nach Norden. eine dritte Marschsäule schob
sich in westli­cher Richtung auf der Mazraa-Straße vor und schnitt auf diese
weise die Palästinen­serlager von den anderen Stadtvierteln ab.

Loren Jenkins, der Korrespondent der "Washington Post", meldete seiner
Zeitung: "Tiefflüge israelischer Kampfmaschinen über den Wohnvierteln in der
Dämmerung gingen dem Vormarsch israelischer Panzer, Schützenpanzer und der
Infanterie vor­aus ... Israelische Kriegsschiffe beschossen die Gegend
nördlich der Panzerspitzen ..."

In Washington erklärte Botschafter Moshe Arens (in einigen Monaten wird er
die Nachfolge Ariel Sharons als Verteidigungsminister antreten, nicht
zuletzt wegen der Ereignisse dieser Tage) auf einer Pressekonferenz, die
israelische Armee werde in West-Beirut "jene Polizeifunktion haben, die
niemand anderer ausüben kann ... wä­ren wir nicht dort, dann ginge alles in
Flammen auf ..." Der gleiche Zynismus im offi­ziellen israelischen
Kriegskommuniqué: "Es wäre für Israel unmoralisch, sich nicht an der
Friedenssicherung zu beteiligen."

Um 11 Uhr hat an diesem 15. September eine offizielle Mitteilung aus Israel
wissen lassen, man habe nunmehr alle strategisch wichtigen Punkte in
West-Beirut unter Kontrolle. Sabra und Chatila seien eingeschlossen. Im
Gaza-Krankenhaus imitten des Flüchtlingslagers Sara, hat der norwegische Arzt Per
Mählumshagen um diese Stunde die Ankunft zahlreicher Verwundeter
registriert. Sie waren durchweg von Schrapnell­geschossen  getroffen worden.

Just um diese Mittagsstunde empfing in Jerusalem Ministerpräsident Begin den
ame­rikanischen Sonderbotschafter Morris Draper, um ihn offiziell von dem
Einmarsch zu informieren. Wie haben die USA auf den Bruch des von ihnen
garantierten Abkom­mens reagiert? Nun, milde, wie immer. Larry Speakes,
Stellvertretender Sprecher des Weißen Hauses, hat in Washington gesagt,
Israel habe den USA versichert, das Vorgehen sei  "begrenzt und vorbeugender
Natur". Der Sprecher des Außenministe­riums meinte, es wäre "hilfreich"
gewesen, wenn Israel die Reagan-Administration vorher "konsultiert" hätte.
Aus Jerusalem hat  man gewisse "politische Quellen" zi­tiert. Der Einmarsch
habe die "stillschweigende Billigung durch die USA".

Nicht einmal durch einen Zwischenfall am Mittag dieses 15. September ist die
ameri­kanische Zurückhaltung beeinträchtigt worden. An der Uferstraße im
Zentrum Bei­ruts, auf der am Morgen die Israelis vorgerückt waren, liegt
das Gebäude der US-Botschaft. Als sich die israelischen Soldaten ihr
näherten, wurde ihnen über Funk befohlen, "um keinen Preis zu schießen".
Ungeachtet dessen sind einem US-Wachtpo­sten des Marinecorps auf dem
Botschaftsdach die Kugeln um die Ohren gepfiffen und haben ihn nur knapp
verfehlt.
Die israelische Regierung hat sich später ent­schuldigt. Man habe
den GI für einen Linksmilizionär gehalten.

Bei einem anderen Zwischenfall hat man keine Entschuldigung für notwendig
gehal­ten. Israelische Soldaten sind unter Missachtung der diplomatischen
Immunität auf das Gelände der sowjetischen Botschaft vorgedrungen
. In einer
Stellungnahme der Israelis an das amerikanische Außenministerium (!) hieß es
dazu, die Soldaten einer gepanzerten Einheit seien vor "feindlichem
Beschuss" geflohen. Sie wollten auf dem Botschaftsgelände die folgende Nacht
verbringen, weil sie dachten, es handele sich um "einen ganz gewöhnlichen
Hinterhof" !!

Die Forderung des sowjetischen Konsuls nach sofortigem Abzug hätte der
israeli­sche Kommandeur ablehnen müssen, "weil draußen geschossen wurde".
Der Bericht hat dann allerdings eingeräumt, man habe dem Diplomaten "mit
Eröffnung des Feuers gedroht", falls er auf seinem Verlangen beharre.

An diesem 15. September war Ariel Sharon in Begleitung von
Armee-Geheim­dienstchef Saguy schon um neun Uhr morgens zu dem soeben
eingerichteten vor­geschobenen Kommandoposten des Brigadegenerals Amos Yaron
gekommen. Der war auf dem Dach eines verlassenen sechsstöckigen Hauses
eingerichtet worden, von dem aus man das Lager Chatila übersehen konnte. In
späteren Berichten und Untersuchungen sollte dieser Kommandoposten noch eine
wichtige Rolle spielen.

Hier nun hatte man dem Verteidigungsminister noch einmal davon informiert,
dass die Phalange-Milizen bereit seien, in die Flüchtlingslager einzurücken.
Und hier hat Sharon dann tatsächlich die Weisung gegeben, man solle sie
hinein schicken, "unter der Aufsicht von ZAHAL".

Anschließend haben sich der Minister und Saguy im Osten Beiruts mit einigen
Offi­zieren der Phalange-Milizen getroffen. Zugegen waren Elie Hobeika und
Fadi Frem. Diese Namen sollte man sich merken.

Am Nachmittag tauchte Sharon dann in Bikfaya auf, am Stammsitz der Gemayels,
wo gerade die Beisetzung des ermordeten Präsidenten für den Abend
vorbereitet wurde. Während über dem Dorf israelische Kampfflugzeuge
kreisten, notierte der Korrespondent der französischen "Le Monde: "Sharon,
im offenen Hemd, ist nach Bikfaya gekommen, um  seine Anteilnahme zu
bezeugen. 'Niemand hat ihn eingela­den,' sagt man." Und so gäbe es "eine
eisige Begrüßung".

Zur gleichen Zeit,  um 16 Uhr 30, hat in Rom der Papst den Vorsitzenden des
Exeku­tivkomitees der PLO, Yasser Arafat empfangen. Arafat hat bei dieser
Gelegenheit seine Auffassung wiederholt, man müsse eine politische Lösung
des Palästina-Problems finden.

Der Vatikan-Empfang für den PLO-Führer machte weltweit Schlagzeilen. Die
israeli­sche Regierung aber hat ganz im alten Ton ("zweibeinige Tiere" etc.)
mit einer offizi­ellen Erklärung reagiert: "Israel gibt seinem Schock
darüber Ausdruck, dass Papst Johannes Paul II. dem Mann eine Audienz gewährt
hat, der einer Organisation von Mördern vorsteht, die im Zentrum des
internationalen Terrorismus steht..."

Am Abend dieses 15.  September schließlich hat Israel die Grenzübergänge
Metulla und Naharija an der libanesischen Grenze für jeglichen
Durchgangsverkehr ge­schlossen. Die Begründung ist die gleiche gewesen, wie
die für den  Einmarsch in West-Beirut: ‚Man wolle nach dem Mord an Gemayel
ein Blutvergießen verhindern.’

Muss man dazu die israelischer Grenze schließen? Die einleuchtende Erklärung
sollte man bald wissen: Man versuchte, unerwünschte Zeugen auszuschließen!

Zunächst aber haben die israelischen Zeitungsleser am Morgen des 16.
September in ihren Blättern ein Interview mit Generalstabschef Rafael Eitan
gefunden, in dem es hieß: "Wir haben eine Katastrophe verhindert. Unsere
Truppen haben die Flücht­lingslager umzingelt und hermetisch abgeriegelt."
Eitan hat jene Parole verkündet, die zuvor schon von Verteidigungsminister
Sharon ausgegeben worden war: In den Lagern befänden sich noch etwa
zweitausend "palästinensische Terroristen". Des­halb sei das israelische
Vorgehen berechtigt. (Übrigens wird man diese zweitausend "Terroristen"
niemals finden.)

Gegen 12 Uhr an diesem 16. September hat eine fünfköpfige Delegation der
Bewoh­ner des Flüchtlingslagers Sabra in Richtung Israel das Stadion
verlassen. Sie wollte die Israelis bitten, den Beschuss der Lager
einzustellen. Sie wollte erklären, dass es keinen Widerstand geben werde,
sollte die israelische Armee die Lager besetzen. Diese fünf Männer sind nie
wieder aufgetaucht. Erst zwei Tage später haben Lage­bewohner, die zum
Verhör ins Stadion gebracht worden sind, die Leichen von zwei Angehörigen
der Delegation identifiziert: den 55jährigen Ahmed Hishiw und den 60jährigen
Abu Ahmad Said.

Im israelischen Hauptquartier am Beiruter Hafen hat indessen um 15 Uhr 30
die - wie es später das amerikanische Nachrichtenmagazin "Time" formuliert -
"entscheidende Sitzung" begonnen. Der Vorsitz führte Generalmajor Amos
Drori, Kommandeur der israelischen Streitkräfte im Libanon. Drei andere
hochrangige Israelis waren zugege­ben, unter ihnen General Amos Yaron. Ihre
Verhandlungspartner waren die künftigen Mörder. Zwar ist immer verschleiert
worden, wer da alles ins israelische Hauptquar­tier geeilt ist, um das
Massaker vorzubereiten, einige Namen aber werden immer wieder genannt.

Da steht an erster Stelle der 28jährige Elias Hobeika, Chef  des
Sicherheitsdienstes der Phalange. Er sei, schreibt die "Time", ein Mann,
"der stets eine Pistole, ein Messer und eine Handgranat am Gürtel trägt". Er
sei "der meist gefürchtete Phalan­gist im Libanon". Hobeika gilt überdies
als Vertrauensmann des israelischen Ge­heimdienstes Mossad wie auch der
amerikanischen CIA. Er ist in Israel ausgebildet worden und die Israelis, so
"Time" weiter, "kennen Hobeika als unbarmherzigen, brutalen
Sicherheitsmann". Dieser Elias Hobeika ist für die persönliche Sicherheit
Bechir Gemayels verantwortlich gewesen. Ihm konnte man den Tod des
Präsidenten anlasten, seiner Unfähigkeit oder seiner Nachlässigkeit.

Wie zu erfahren ist, haben der illustren Runde am Nachmittag dieses 16.
September sicherlich noch drei andere Männer angehört. Dib Anastas sei dabei
gewesen, der Chef der Militärpolizei der "Lebanese Forces". Joseph Edde, der
Kommandant der Rechtsmilizen im südlichen Libanon, der sogenannten
"Damour-Brigade" sei ins is­raelische Hauptquartier gekommen. Und Michel
Zouein, der Adjudant Hobeikas, habe teilgenommen.

Da sich die Israelis über diesen Aspekt auch weiterhin ausschwiegen, haben
die amerikanischen Journalisten Colin Campbell ("New York Times") und Loren
Jenkins ("Washington Post") auf eigene Faust Recherchen angestellt. Das wird
ihnen ver­übelt werden. Am 28. September lässt ihnen die US-Botschaft in
Beirut eine War­nung zugehen (die Enthüllung der Namen brächte sie in
Gefahr). Am Morgen des 29. September werden Campbell und Jenkins durch
amerikanische Diplomaten nach Damaskus in Sicherheit gebracht.

Die beiden Reporter haben anhand von Zeugenaussagen feststellen können, wer
an den Massakern beteiligt war, und das erlaubte ihnen Rückschlüsse auf die
Zusam­mensetzung der Sitzung im israelischen Hauptquartier. In den Lagern
sah man Leute der "Spezial-Sicherheitseinheiten" von Hobeika, Angehörige der
"Militärpolizei" von Dib Anastas, die an ihren schwarzen Baretten
erkennbaren Kommandos der "Damour-Brigade" von Joseph Edde und Angehörige
der Haddad-Armee.

Um die  Beteiligung oder Nichtbeteiligung der Haddad-Leute wird es später
einigen Wirbel geben. Eine israelische Untersuchungskommission wird den
Major Haddad - übrigens als einzigen aller Betroffenen - von jeglicher
Schuld freisprechen. Und das wird aus gutem Grund geschehen. Von
irgendwelchen Phalange-Subjekten glaubte die israelische Führung sich noch
leicht distanzieren zu können, womit die ganze Sache zu einer rein
innerlibanesischen Affaire würde. Im Falle Haddads aber wäre das kaum
möglich, die Unterstellungsverhältnisse sind zu klar. Fiele auf Haddad der
Schatten eines Verdachts, geriete auch Israel ins Gerede.

Aber es gibt Zeugen! An diesem Donnerstag, den 16. September, haben zwei
Offi­ziere der libanesischen Armee, die auf dem Beiruter Flugplatz
stationiert waren, die Landung von zwei Transportmaschinen Typ $-130
"Hercules" der israelischen Luft­waffe auf der Landebahn 1 beobachtet. Ihnen
sind Uniformierte entstiegen. Militär­fahrzeuge wurden entladen. Die beiden
libanesischen Offiziere waren überzeugt, es handele sich um Haddad-Leute.

Der Korrespondent der Pariser "Le Monde" hat nach den Massakern berichtet:
Der Major Haddad wurde in den letzten Tagen bei mehreren Gelegenheiten in
West-Beirut gesehen. einige seiner Leute haben am Freitag Abend (am 17.
September) im Stadtviertel Mousseitbe ein Büro der Sozialistischen
Fortschrittspartei angegriffen. Während des Zusammenstoßes sind zwei von
ihnen gefangen genommen worden. Sie hatten Militärpapiere in Arabisch und
Hebräisch bei sich, sie hatten jedoch an der Windschutzscheibe ihres Wagens
einen Aufkleber der Phalange." Gewiss, Mousseitbe ist nicht Sabra oder
Chatila. Aber die Israelis und Haddad werden stets bestreiten, dass der
Major oder seine Leute zum fraglichen Zeitpunkt überhaupt in Beirut gewesen
seien. Auf die drängenden Frage des "Times"-Korrespondenten Ro­bert Fisk hat
Haddad später geantwortet: "Möglicherweise hat man einige unserer Abzeichen
gesehen, denn vielleicht könnten einige unserer Leute bei anderen
Streit­kräften in Beirut gedient haben. Außerdem sammeln manche Leute
Abzeichen als Souvenirs, und sie könnten sie während des Tötens getragen
haben. "

Der Major Haddad hat alles auf Souvenirsammler abgewälzt, andere Leute haben
sich ungestraft zum Mord bekannt
. Das israelische Fernsehstudio in Beirut
(ja, auch das gab es bereits!) zeichnete ein Interview mit einem angeblichen
Phalange-Offizier auf, der sich "MICHEL" nannte. Bevor Kamera und Mikrofon
eingeschaltet waren, hat "Michel" erzählt, er sei in Sabra und Chatila dabei
gewesen und habe dort eigenhän­dig fünfzehn Menschen getötet. Er finde
nichts Schlimmes dabei, Palästinenser zu töten. In dem später in Israel
ausgestrahlten Interview hat er gesagt: "Was die israe­lische Armee dabei
tut, ist ohne Belang. Sie kann uns nicht am Töten von Palästinen­sern
hindern."


Das mag als geradezu perfekte Entschuldigung für die Israelis gedacht
gewesen sein. Aber am 25. Oktober erklärt  Ariel Sharon vor der
Untersuchungskommission: "Wir wissen genau, wen wir in die Lager hinein
gelassen haben und wer heraus ge­kommen ist. Aber wer dort gemordet hat - so
würde ich sagen, dass ich es bis heute nicht weiß."

Um 16 Uhr, als an diesem 16. September gerade als die "Hercules2-Maschinen auf
der Landebahn 1 aufsetzten und die Sitzung im israelischen Hauptquartier am
Hafen noch andauerte, wurde dort aus Tel Aviv angerufen. Die Aussagen
darüber, wer am anderen Ende der Leitung war, bleiben widersprüchlich, ob es
Sharon oder General­stabschef  Eitan gewesen ist. wer auch immer  - aus Tel
Aviv ist angefragt worden, wann die Milizen bereit seien, in die Lager
einzufallen. General Drori hat geantwortet: "Sofort!"

Auf der Besprechung hatte man inzwischen die Einmarschwege festgelegt. Einen
Vorschlag der Milizen, dass sie von israelischen Verbindungsoffizieren in
die Lager begleitet werden sollten, hätten die Israelis abgelehnt.

Überhaupt ist in Israel immer bestritten worden, dass israelische Soldaten
direkt an den Vorgängen in den Lagern beteiligt gewesen seien. Es gibt keine
Beweise des Gegenteils, nur einige befremdliche Indizien. So haben
Überlebende nach den Mas­sakern zwischen den Leichen einen israelischen
Militärpass und eine Erkennungs­marke mit der Nummer 3 340 074 gefunden. Der
Ausweis (Nr. 5 731 l872) war auf den Namen des Sergeanten Benny Chaim,
geboren am 7. September 1961, ausge­stellt. Wie ist das nach Chatila
gelangt? Und wer war oder ist Benny Chaim? Es hat nie Antworten auf diese
Fragen gegeben.

Einige Monate später präsentiert die amerikanische Nachrichtenagentur AP
drei Zeugen aus Chatila, die 44jährige Ektefa Challah, ihre 16jährige
Tochter und eine Nachbarin. Frau Challah hat bis zu ihrem 10. Lebensjahr in
Haifa gewohnt, sie spricht Hebräisch. Sie berichtet, am 16. September, als
die Morde begannen, sei ein israelischer Soldat ins Lager gekommen und habe
mit ihr gesprochen. Später wurde der Mann der Nachbarin zusammen mit anderen
Männern vor eine Wand geführt und erschossen. "In diesem Augenblick war der
Israeli bei mir," sagte Frau Challah. Er habe die Phalangisten aufgefordert,
sie und ihre Kinder in Ruhe zu lassen...

Jedenfalls hat General Drori nach dem Ende der Sitzung mit den Phalangisten,
also um 17 Uhr, noch einmal mit Verteidigungsminister Sharon telefoniert:
"Unsere Freunde gehen in die Lager. Ich habe den Einmarsch mit ihren
Spitzenleuten koordi­niert." Sharon hat geantwortet: "Glückwunsch! Die
Operation der Freunde ist geneh­migt.

Sie wussten, was sie taten! später sagt General Drori aus: "Wir haben sie
gewarnt, und wir haben angenommen, dass dies nicht passieren würde." "Sie",
das waren die Phalangisten. Hatte der General nicht seine eigene
Armee-Zeitung "Bamahane" ge­lesen, die in ihrer Ausgabe vom 1. September
einen Phalangistenoffizier  zitiert hatte? "Wir haben nur ein Problem,
nämlich ob wir erst die Männer umlegen oder erst die Frauen vergewaltigen
sollen." Und  "mindestens ein Offizier" hatte, so die israelische
Untersuchungskommission, just bei dieser Beratung "die Befürchtung
ausgesprochen", dass es zu einem Massaker kommen könnte.

Jetzt, um 17 Uhr, versammelten sich auf der Landebahn 1 des Flugplatzes die
Mord­kommandos zu reinem letzten Appell. Augenzeugen sprechen später von
tausend bis eintausendfünfhundert Mann. Schon zuvor sind sie beim Anmarsch
von den Be­wohnern des Süd Beiruter Stadtviertels Choueifat gesehen worden.
Auch hier eine Beobachtung, die Robert Fisk zitiert: ‚Die Jeeps hätten
Abzeichen der Haddad-Miliz getragen. Auch die sauberen Reifen der Fahrzeuge
seien aufgefallen.’ (weil sie mit Flugzeugen nach Beirut gebracht worden
sind?).

Genau zur gleichen Stunde ist der amerikanische Sonderbeauftragte Morris
Draper in Begleitung von Botschafter Samuel Lewis und dem US-Militärattaché
in Israel in das Büro des israelischen Verteidigungsministers in Jerusalem
gekommen. Das Protokoll über das Gespräch Drager - Sharon, geführt auch in
Gegenwart von Armee-Ge­heimdienstchef Saguy, liest sich so:

Draper. "Ich war überrascht über das Vorrücken der israelischen Armee. Die
Libane­sen wollen, dass Sie abziehen; dann wird ihre Armee einrücken."

Sharon: "Wer wird einrücken?"

Draper: "Die libanesische Armee und die Sicherheitskräfte."

Saguy: "Und die Phalange."

Draper: "Auf keinen Fall die Phalange."

Saguy: "Wer soll sie aufhalten?"

Draper: "Sind Sie sicher, dass die Phalange einrücken wird?"

Saguy: "Fragen Sie ihre Führer."

Draper: "Der kritische Punkt für uns ist, dass alle Welt uns glaubte, als wir
sagten, dass Sie nicht nach West-Beirut gehen würden, da Sie uns Ihr Wort
darauf gegeben haben. Das ist für uns der entscheidende Punkt."

Auf dieser Darlegung der amerikanischen Hauptsorge, nämlich, das Gesicht zu
ver­lieren, antwortete Sharon: "Die Umstände haben sich geändert."

Draper: "Früher haben die Leute geglaubt, Sie würden Ihr Wort halten."

Sharon schließlich: "Wir sind eingerückt wegen der zweitausend bis
dreitausend Ter­roristen, die dort zurückgeblieben sind. Wir haben sogar
ihre Namen."

Draper: "Ich habe nach diesen Namen gefragt, und Sie sagten, es sei eine
enorme Liste, aber dann haben Sie eine ganz winzige herausgerückt ..."

In diese Debatte um Namen und Listen mischt sich Generalstabschef Eitan ein:
"Lassen Sie mich Ihnen erklären. Libanon ist kurz vor der Explosion einer
Raserei der Rache. Niemand kann sie aufhalten. Gestern haben wir mit den
Phalangisten über ihre Pläne gesprochen. Sie haben keine starkes Kommando...
Sie sind beses­sen von der Idee der Rache..." Eitan fügte hinzu, er habe "in
ihren Augen gesehen, dass es eine unbarmherzige Schlächterei geben wird."
Einige Zwischenfälle hätten sich bereits ereignet "und es ist eine gute
Sache, dass wir an Stelle der libanesi­schen Armee dort waren, um zu
verhindern, dass es weiter ging."



Und so ging das Gespräch weiter und weiter, zu einer Stunde, da das
Massaker noch zu verhindern gewesen wäre. Die israelischen Generäle haben
darauf beharrt, allein die Präsenz ihrer Soldaten verhindere Schlimmes, und
sie wussten, dass sie lügen.  Die Amerikaner haben sich letztlich mit einer
milden Kritik zufrieden gegeben.

Inzwischen richteten die Mord-Milizen im Gebäude der Botschaft Kuweits,
direkt am Südeingang von Chatila, einen Kommandoposten ein, dicht bei dem
israelischen Be­obachtungsposten auf dem Dach des sechsstöckigen Gebäudes.

Um diesen israelischen Beobachtungsposten wird es später ausgedehnte
Debatten geben. Nämlich: Ob von dort aus zu beobachten war, was sich drunten
in Chatila abspielte. Sharons Aussage vor dem Untersuchungsausschuss: "Ich
war (zuvor) auf dem Dach des israelischen Kommandostandes. Wir konnten von
Sabra und Chatila nur einen Haufen Häuser sehen, aber nichts von dem, was
sich auf den Straßen ab­spielte."

Der amerikanische Journalist Robert Suro vom Nachrichtenmagazin "Time"
besucht nach den Massakern den Kommandostand und findet "geleerte
Konservenbüchsen, israelische Zeitungen und einen ungehinderten
Panoramablick auf die Region des Chatila-Lagers ...

Sein Kollege Ray Wilkinson von "Newsweek" misst die Entfernung vom
Südeingang von Chatila bis zum israelischen Beobachtungsposten.
Zweihundertfünfzig Schritt. Auf dem Dach stellt er fest: "Von dort sind alle
Einzelheiten in den Lagern sichtbar, sogar mit bloßem Auge. Mit Ferngläsern
wären die Israelis in der Lage gewesen, selbst das kleinste Detail zu
erkennen." Tatsächlich sagen später israelische Solda­ten aus, sie hätten
nach 17 Uhr gesehen, wie sich Uniformierte mit Messern und Äxten dem Lager
näherten.

Um 18 Uhr 50 verließen die amerikanischen Diplomaten Sharons Büro. Genau
zehn Minuten später war den israelischen Beobachtern über Chatila klar, was
drunten vor sich ging. Man hörte nämlich den Funkverkehr der Milizionäre ab,
und dabei die Frage eines Kommandeurs, was er mit den fünfzig Frauen und
Kindern machen solle, die er zusammengetrieben habe. Hobeika antwortete über
Funk: "Dasist das letzte Mal, dass Sie mich fragen. Sie wissen, was zu tun ist."
Leutnant Elul, der Adjudant von General Yaron hatte diese Worte gehört und
auf der Stelle seinen Chef informiert. Der General behauptete später, er
habe daraufhin Hobeika "ver­warnt".

Um 19 Uhr - seit einer Stunde war in Sabra und Chatila gemordet worden -
kamen, wie zwei israelische Fallschirmjäger später dem Korrespondenten der
israelischen Zeitung  "Ha'aretz" mitteilen, Frauen aus dem Lager Chatila
gerannt und erzählten weinend, dass im Lager Leute umgebracht würden. Die
Soldaten informierten mehrfach ihre Vorgesetzten. Antwort: Sie sollten sich
nicht darum kümmern. Die Sol­daten sagen später: "Man hätte das Massaker am
Donnerstag Abend beenden kön­nen, wenn man zur Kenntnis genommen hätte, was
wir unseren Offizieren erzählt haben.

Dämmerung hatte sich über Beirut gesenkt. Die israelische Armee begann, aus
81-mm-Mörsern Leuchtgranaten über die Lager zu schießen. Die "Jerusalem
Post" zi­tiert: "Ein Soldat einer Artillerieeinheit sagte, dass seine
Truppe die ganze Don­nerstagnacht hindurch zwei Leuchtgranaten in der
Minute abschoss. Es gab auch den Abwurf von Leuchtbomben durch die
Luftwaffe, sagte er.“

Um 19 Uhr 30 trat in Jerusalem das israelische Kabinett zu einer Sitzung
zusammen. Die Minister sollten ihre Zustimmung zum Einsatz der Phalangisten
in den Lagern geben, nachträglich wiederum.

Die Aussagen über diese Sitzung werfen ein etwas eigenartiges Licht auf die
Gepflo­genheiten in der Regierung. Ausgerechnet Generalstabschef  Eitan, der
hinzugezo­gen worden ist, erklärt dem Protokoll zufolge den versammelten
Ministern: "Die Christen warten nur auf Rache, sie wetzen schon ihre
Messer... Ich erkenne in ihren Augen, worauf sie warten."

Warten? Man mordete bereits, und der Generalstabschef wusste das.

Ministerpräsident Menachem Begin später in der Untersuchungskommission zu
der Kabinettssitzung: "Tatsache ist, dass es niemandem einfiel, es könnte zu
Gräueltaten kommen..."

Niemandem ? Immerhin äußerte Vizepremier David Levy (als einziger) Bedenken.
Begin aber erklärte später, er könne sich an Eitans Äusserungen nicht
erinnern, und "kein Minister hat sich durch diese Bemerkungen beunruhigt
gezeigt." Und: "Ich habe die Warnungen damals ehrlich gesagt, nicht einmal
richtig gehört."

Am nächsten Tag, am 17.September, erfuhren die Israelis in ihren Zeitungen:
"Si­cherheitsminister Sharon und Ministerpräsident Begin erläuterten gestern
auf einer außerordentlichen Kabinettssitzung die Lage in Beirut und legten
dar, der Einmarsch von  ZAHAL  sei erforderlich gewesen, um die Stabilität
in der Stadt zu gewährleistet.

Donnerstag, 16. September 1982, 23 Uhr. Der Kommandeur der Milizen in den
La­gern sandte dem israelischen Hauptquartier in Beirut eine Botschaft: "Bis
zur Stunde haben wir dreihundert Zivilisten und Terroristen getötet. " Diese
Mitteilung wurde an­geblich an zwanzig oder dreißig israelische Offiziere
weitergeleitet, darunter auch an Generalstabschef Eitan. Wenn später die
Existenz dieser Nachricht auch bestritten wird, der Militärkorrespondent der
"Jerusalem Post, Hirsh Goodman, schreibt am 20. September, er habe sie mit
eigenen Augen gesehen.

"Mit dem Einmarsch in West-Beirut haben wir eine Katastrophe verhindert."
Diese Worte von General Eitan konnte man am Morgen des 17. September in der
Zeitung "Yedioth Aharonot" lesen. Es war nach einer Nacht, von der ein
ausländischer Medi­ziner, tätig im Gaza-Hospital in Sabra, sagte, es sei
ein Inferno gewesen: "Der Him­mel wurde niemals dunkel. Das Schießen hörte
niemals auf. Die Leute schrien."

Am Morgen des 17. September gegen 7Uhr hörten die Mediziner im
Gaza-Hospital näher rückenden Kampflärm. Zweiundachtzig Verletzte kamen ins
Krankenhaus und berichteten von Massakern.

Ein israelischer Soldat, der an einem der Lagerausgänge Posten stand,
erzählt spä­ter der Zeitung "Ha'aretz", es seien schreiende palästinensische
Frauen gekommen und hätten berichtet, "die Christen" würden ihre Kinder
erschießen und die Männer in Lastwagen abtransportieren. "Ich habe das
meinem Offizier erzählt, aber der sagte nur: 'Es ist o.k.'".

Um acht Uhr fanden sich einige ausländische Korrespondenten am Eingang zum
Lager Sabra ein. Milizionäre und israelische Soldaten verwehrten ihnen den
Zutritt. Roy Wilkinson von "Newsweek" gelang es dagegen, einige hundert
Meter nach Sabra hinein zu kommen. Dann hielt ihn ein Milizionär fest. Ein
anderer Phalangist rief: "Ich habe einen alten Mann gefunden." Antwort:
"Dann erschieß ihn."

Wilkinson sah auch, wie die Milizionäre das Lager verließen, um sich
auszuruhen. Die Israelis gaben ihnen Lebensmittel und Getränke.

Erklärung eines "hohen israelischen Regierungsvertreters" am 20. September:
"Ge­wisse beunruhigende Berichte trafen Freitag morgen ein, aber es gab noch
kein kla­res Bild, was los war.

Aussage von Oberleutnant Ari Grabowski, Kommandeur einer Panzereinheit,
statio­niert am Eingang von Sabra, über den Morgen des 17. September. "Ich
konnte aus etwa fünfhundert Meter Entfernung sehen, wie Phalangisten fünf
Frauen und Kinder getötet haben." Einer der Mörder sagte ihm: "Die
schwangeren Frauen bringen künf­tige Terroristen zur Welt - Kinder wachsen
und werden zu Terroristen."

Um neun Uhr jedenfalls informierte Grabowski über Funk seinen
Bataillionskomman­deur. Er erhielt die Antwort: "Ich weiß, das ist schlecht,
aber wir greifen nicht ein."

Um elf Uhr teilte ein israelischer Offizier General Drori mit, er sei "wegen
des Vorge­hens der Milizen besorgt"! Daraufhin, so Sharon vor der
Untersuchungskommission, hat Drori das Ende der Aktion befohlen und Eitan
informiert: Die Phalangisten seien "zu weit gegangen".

Doch das Morden ging weiter. Milizionäre drangen in das Akka-Hospital am
Rande von Chatila ein. Sie forderten die ausländischen Ärzte und Pfleger
auf, mit erhobe­nen Händen aus dem Krankenhaus zu kommen. Die Eindringlinge
vergewaltigten die 19jährige palästinensische Krankenschwester Intisar
Ismail und erschossen sie da­nach. Unterdessen führte man das ausländische
Personal zum Südeingang von Chatila, wo es von einer Gruppe israelischer
Soldaten erwarte wurde. Diese kontrol­lierten die Pässe. Norwegische
Diplomaten fanden sich ein und erreichten die Frei­lassung der norwegischen
Mediziner. Den anderen wurde erlaubt, ins Hospital zu­rückzukehren.

Um elf Uhr rief der Militärkorrespondent der israelischen Zeitung
"Ha'aretz", Zeev Schiff, den Kommunikationsminister Mordechai Zippori an.
Schiff hatte am Morgen dieses 17. September von Freunden in Beirut
Informationen über die Morde erhal­ten.

Minister Zippori telefonierte sofort mit Außenminister Yitzchak Shamir.
Dessen Aus­sage vor der Untersuchungskommission: "Es hat mich auch nicht
besorgt gemacht, denn es war mir klar, dass alle Vorgänge den mit mir im
Raum versammelten Leuten bekannt waren." Außerdem sei ja alles eine Sache
der Auslegung. Zippori hätte bei seinem Anruf das Wort "hishtolelut"
benutzt, was im Hebräischen sowohl kindlichen Übermut, Ausgelassenheit oder
Sich-Austoben bedeuten kann, aber auch Wüten, Toben, eine Ausschreitung.
Shami: "Da dieses Wort so viele Bedeutungen hat, habe ich es nicht als
alarmierend empfunden."

Um zehn Uhr hatte sich die Verwaltungsleiterin des Gaza-Hospitals auf den
Weg gemacht, um Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes über das
Andauern der Schüsse im Lager zu informieren und zum Eingreifen zu bewegen.

Noch hatte man im Krankenhaus keine Vorstellung von dem Unvorstellbaren.

Jetzt, um zwölf kehrte sie zurück, ohne etwas erreicht zu haben. Sie
berichtete nur, dass "etwas Schreckliches geschieht", und forderte alle
Palästinenser unter dem Personal auf, sich in Sicherheit zu bringen. Mit
diesen verließen auch viele Flücht­linge das Hospital. Als sie, eine weiße
Fahne schwenkend, die Lagergrenze von Sabra erreichten, wurden sie von
israelischen Soldaten zurückgeschickt - in den Tod
. Ein israelischer Soldat
hat ihnen gesagt: "Ich kann nichts machen. Wenn Ihr noch zehn Minuten länger
hier bleibt, schieße ich ... Ein israelischer Panzer schob sich auf die
Gruppe zu.

Gegen 13 Uhr drang der dänische Fernsehkorrespondent Flindt Peterssen bis
zum Eingang von Chatila vor. Seine Kamera hielt fest, wie ein Lastwagen mit
Frauen und Kindern von Phalangisten am Verlassen des Lagers gehindert wurde.

16 Uhr. "Newsweek"-Korrespondent James Pringle fragte einen Milizionär am
Lage­reingang, was hier vorgehe. Antwort: "Wir schlachten sie!" ein
israelischer Oberst, der sich "Eli" nannte, sagte zu Pringle: "Wir werden
nicht eingreifen!"

Indessen sagte ein anderer israelischer Oberst, der seinen Namen nicht
nennen wollte, in einem Gefechtsstand zum Reuter-Korrespondenten Paul Eedle,
seine Leute seien angewiesen, sich nicht einzumischen. Vor diesem
Gefechtsstand ruhten sich israelische Soldaten auf ihren Panzern aus, lasen
und hörten Musik. Hundert Meter weiter erfrischten sich in einem Gebäude der
Universität Phalangisten nach ihrem Einsatz. Am Eingang von Chatila sah der
norwegische Diplomat Gunnar Flakstadt einen Bulldozer mit Leichen vorüber
fahren.

Um 16 Uhr 30 haben sich die israelischen Kommandeure mit den Bossen der
Mörder getroffen. Jetzt ging es um die Weisung, die Aktionen bis spätestens
am nächsten Morgen um fünf Uhr einzustellen. Zuvor aber hat, General Yaron
zufolge, der mitt­lerweile in Beirut eingetroffene Generalstabschef Eitan
die Mörder gelobt: "Sie haben gute Arbeit geleistet, aber jetzt müssen Sie
sich zurückziehen."

Die Berichte aller Augenzeugen stimmen in einem überein: Die schlimmsten
Dinge ereigneten sich erst in der Nacht zum Samstag, zum 18. September. Sie
fanden erst nach dem Treffen der israelischen Generale mit den Miliz-Bossen
statt, in jenen zwölf Stunden, die die Israelis den Mördern noch zugebilligt
haben.

Doch inzwischen war es an diesem 17. September erst einmal 18 Uhr geworden,
die Dämmerung legte sich über die libanesische Hauptstadt. Zusammen mit
dreißig an­deren Männern mußte sich der 31jährige Mustafa Habra an einer
Mauer aufstellen. Seine Frau und seine drei Kinder waren zuvor von den
Milizionären weggeschafft worden, er würde sie nie wieder sehen. "Sie haben
auf uns geschossen," sagte er. Sieben Geschosse trafen Mustafa Habra. Ein
Toter fiel über ihn. Am nächsten Mor­gen findet man den Verwundeten und
schafft ihn ins Krankenhaus.

Jetzt, um 18 Uhr, rief der USA-Botschafter in Israel den Stellvertretenden
Generaldi­rektor des israelischen Außenministeriums Hana Bar-On, an. In
Washington habe man "indirekt" Nachrichten über ein Massaker in Beirut
erhalten, was es damit auf sich habe? Aber es gab keine klare Auskunft für
die Amerikaner.

In Beirut traf sich indessen der amerikanische Sonderbotschafter Morris
Draper mit dem "Verbindungsoffizier" des israelischen Außenministeriums in
der libanesischen Hauptstadt, Bruce Kashdan (ungefragt und unerlaubt
unterhält Israel also sogar schon eine Quasi-Botschaft in Beirut). Draper
sagte, es gäbe Gerüchte über "Aus­schreitungen". Die Israelis sollten die
Milizen zurück beordern. Kashdan leitete diese Demarche an Ariel Sharon
weiter.

Zu dieser Stunde ging bei dem Leiter des PLO-Büros in Washington ein
Fernschrei­ben des PLO-Büros auf Zypern ein: "Nachrichten aus Beirut liegen
uns vor, wonach die Milizen von Saad Haddad die Flüchtlingslager Sabra und
Chatila gestürmt haben. Ein Massaker unter den palästinensischen Zivilisten
in den Lagern ist zu befürchten. Bitte sofortige und nachdrückliche Schritte
unternehmen, um eine solche Entwicklung aufzuhalten."

Der PLO-Vertreter in den USA, Hassan Rahman, besaß keine offizielle
Akkreditie­rung. Er konnte mit niemandem verhandeln - die USA verweigern
jegliche Anerken­nung der PLO. Rahman informierte also den tunesischen
Botschafter. Dieser wandte sich sogleich an das amerikanische
Außenministerium. Aber die Macht, die mit dem Abkommen von Philip Habib auch
die Garantie für die Sicherheit der Bewohner von Sabra und Chatila
übernommen hatte, gab die Auskunft, ein US-Diplomat habe um 13 Uhr die Lager
aufgesucht und "nichts Schlimmes" entdecken."17. September, 21 Uhr - Ariel
Sharon behauptet, er habe erst zu dieser stunde von den Vorgängen in Beirut
erfahren. General Eitan, der ja erst fünf Stunden vorher den Mördern für
ihre "Arbeit gedankt  hatte, rief angeblich beim Verteidigungsminister an.
Die zivilen Opfer "überschreiten schrecklich die israelischen Erwartungen,"
hat  Eitan gesagt. Wieviel zivile Opfer hat er denn erwartet? Und Eitan
weiter: "Sie sind zu weit gegangen", aber am nächsten Morgen (erst am
nächsten Morgen!) würden die Aktionen einge­stellt. Sharon erklärt später,
dies - der "nächste Morgen" - sei ihm als "ein vernünfti­ger Zeitraum"
erschienen, denn die Milizen hätten nicht über hoch entwickelte
Kom­munikationsmittel verfügt und sich deshalb nicht schneller zurückziehen
können. Wo sie doch über Funksprechgeräte verfügen, deren Gespräche sogar
von den Israelis abgehört wurden!

jedenfalls hat Sharon an diesem Abend nicht weiter reagiert. später rief ihn
der israe­lische Fernsehjournalist Ron Ben Yishai an und fragte nach den
Ereignissen in Bei­rut. Sharon wünschte ihm nur mit Blick auf das jüdische
Neujahr "Frohes Fest".

Samstag, 18. September 1982.In der Nacht hat in New York der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen den israelischen Einmarsch in West-Beirut verurteilt,
einstimmig, sogar mit der Stimme der Vereinigten Staaten, die doch sonst
noch immer zugunsten Israels interveniert haben
. Israels UNO-Botschafter
Yehuda Blum hat allerdings kei­nen Zweifel daran gelassen, dass sein Land
auch diese UNO-Resolution zu ignorie­ren gedenkt.

Die den Phalangisten vom israelischen Oberkommando gesetzte Frist, bis um
fünf Uhr die Lager zu verlassen, ist abgelaufen. Dennoch dringen jetzt
Milizionäre in das Gaza-Hospital in Sabra ein. Hier befinden sich noch das
medizinische Personal und achtunddreißig Patienten. Die ausländischen Ärzte
und Pfleger werden zusammen­getrieben und  nach Süden, zum Lagereingang von
Chatila geführt. Nur eine Schwe­ster und ein Medizinstudent bleiben bei den
Schwerverletzten. Die Ausländer be­richten: "Eine palästinensische
Krankenschwester wurde aus der Gruppe herausge­holt, um eine Ecke geführt
und erschossen. Später identifizierten die Killer einen Krankenpfleger als
Palästinenser und erschossen ihn ebenfalls."

Die amerikanische Krankenschwester Ellen Siegel sagt: "Auf beiden Seiten der
Rue Sabra standen Frauen und Kinder, zusammengetrieben von Soldaten, die
nicht liba­nesische Uniformen trugen, sondern grüne Militäranzüge und grüne
Mützen. Wir schätzten, dass es etwa achthundert bis tausend Frauen und
Kinder waren. Man konnte große Bulldozer sehen, die dabei waren, Gebäude
einzureißen und im Inne­ren dieser Gebäude Leichen zu begraben. Eine Frau
versucht, ihre Baby einem ausländischen Arzt in den Arm zu legen, aber sie
wurde von den Soldaten gezwun­gen, den Säugling wieder zurück zu nehmen."

Um 8 Uhr 30 treffen die ersten UNO-Beobachter in Sabra ein. Sie entdecken
Leichen. Augenzeugen beobachten zu dieser Stunde Bulldozer, die Leichen
weg­schaffen. Einige der Fahrzeuge tragen Insignien der israelischen Armee.

Robert Fisk schreibt an die "Times": "Hinter der niedrigen Mauer lag eine
Reihe jun­ger Männer und Jungen niedergestreckt. Wie waren in einer
regelrechten Exekution von hinten vor der Mauer erschossen worden, und sie
lagen, pathetisch und schrecklich zugleich, so, wie sie hingefallen waren.
Die Exekutionsmauer und das Gewirr von Körpern erinnerte uns irgendwie an
etwas, was wir schon einmal gese­hen hatten, und erst später wurde uns
bewusst, wie ähnlich das alles alten Fotos von Exekutionen aus dem
okkupierten Europa im zweiten Weltkrieg war..."

Jack Reddan, der Korrespondent der amerikanischen Nachrichtenagentur UPI
be­richtet: "Unter einer Baumgruppe gräbt Walid Merhab Gräber für sechs
Tote, die er selbst in Chatila geborgen hat. Darunter sind seine Mutter und
seine beiden Neffen... Bulldozerspuren führen an den Fuß eines Sandhügels.
Auf einer Strecke von dreißig Metern ist die Erde frisch aufgehäuft.
Leichenteile, die aus der Erde ragen, verraten, dass sich unter dem Hügel
ein Massengrab befindet."

Samstag, 18. September. Am Mittag kommt Menachem Begin aus der Synagoge, wo
er seit dem frühen Morgen gebetet hat. Um 13 Uhr 30 hört er - so sagt er
später - im britischen Fundfunk die Nachricht, es habe Morde im
Gaza-Hospital gegeben. Er habe gedacht, es handele sich um ein Hospital im
von Israel besetzten Gaza-Strei­fen. Doch dann fragt er bei seinem Sekretär
Zeev Zacharin nach. Der telefoniert mit Verteidigungsminister Sharon.
Antwort: Den Ärzten sei "nichts Schlimmes" passiert. Der Premier denkt sich
nichts Arges. Er fragt nicht zurück.

Am Abend des 16. September hat Menachem Begin Warnungen "nicht gehört". Er
hat dem Einsatz der Mordbanden zugestimmt. Der 17. September war Sabbat. Da
hat sich der Premier an das Gebot gehalten. Er hat nicht gearbeitet an
diesem Frei­tag. Und an diesem Samstag nun, an diesem 17. September ist er
erst einmal frühmorgens in die Synagoge gegangen. Rosh Hashana steht vor der
Tür, das jüdi­sche Neujahrsfest. Der 1. Tischri, der erste Tag des Jahres
5743 jüdischer Zeitrech­nung wird auf den 19. September fallen. Das wird der
Überlieferung zufolge der 5743. Jahrestag seit Erschaffung der Welt sein.
Zwei Tage lang wird man feiern, die ersten der zehn Bußtage, der Jomin
Noraim, der "erhabenen, ehrfurchtgebietenden Tage", die mit dem
Versöhnungstag schließen, dem Yom Kippur. Früher, vor der Zerstörung des
Tempels in Jerusalem durch die Römer, pflegten die Priester am 1. Tischri
den Sündenbock in die judäische Wüste zu treiben, beladen mit allen Sünden
des vorangegangenen Jahres.

Am 18. September, am Vorabend des 1. Tischri, beglückwünscht man sich: "Für
ein gutes Jahr mögest Du eingeschrieben sein." Im Hauptgebet zu Rosh Hashana
aber heißt es: "Wenn Du, Herr, die Herrschaft der Willkür von der Erde
entfernst, wird alle Gewalttätigkeit ihren Mund schließen, und alle
Gesetzlosigkeit wird wie Rauch ver­gehen."

Samstag, 17 Uhr. In Washington ist es neun Uhr morgens. In Beirut haben die
Re­porter und die UNO-Beamten Leichen über Leichen entdeckt. In Washington
wird Präsident Ronald Reagan von dem Massaker informiert. Keine Frage, die
USA ha­ben mit dem Habib-Abkommen Garantien übernommen. Der Präsident selbst
hat am 20. August vor einer Verletzung der Vereinbarungen gewarnt: "Alle
Parteien, die den Vertrag unterzeichnet haben, tragen ihre besondere
Verantwortung in diesem Rah­men."

Und nun? Ein Pressesprecher des State Department betont, Washington wisse
nicht, "wer in den Lagern den Finger am Abzug hatte".

Um 22 Uhr Beiruter Zeit äußert Ronald Reagan sein Entsetzen. In der
offiziellen Er­klärung des Weißen Hauses heißt es: "Während der
Verhandlungen, die zum Abzug der PLO aus Beirut führten, versicherten uns
die Israelis, dass ihre Truppen West-Beirut nicht betreten würden.“