KRIM-KRISE „Der Westen ist scheinheilig“

von Dietmar Hipp

Der Völkerrechtler Bruno Simma über die Rechtsverstöße Russlands, die Logik Putins und die Fehler der EU

Simma, 73, war Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag und Professor für Völkerrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Mitglied mehrerer Schiedsgerichte zur Klärung internationaler Streitfragen und lehrt derzeit an der Universität von Michigan in Ann Arbor.

SPIEGEL: Herr Professor, die politischen Meinungen zur Krim-Krise sind gespalten: Die Bundesregierung sieht einen Völkerrechtsverstoß, Altkanzler Helmut Schmidt kann dagegen die Annexion der Krim nachvollziehen. Können Sie Putin verstehen?

Simma: Ich habe kein Verständnis für Putins Vorgehen. Allerdings: Wenn wir uns in die Lage Russlands versetzen, kann man sein Vorgehen nachvollziehen, wohlgmerkt, ohne es damit zu rechtfertigen. Auch wenn Schmidt in vielen völkerrechtlichen Details falschliegt, seiner Grundtendenz stimme ich deshalb zu. Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger hat gesagt, man dürfe Putin nicht als Irren behandeln, dem man die eigenen Regeln beibringen will - ich bin kein Fan Kissingers, aber hier hat er recht.

SPIEGEL: Aus Sicht Putins wurde die Krim gar nicht annektiert, sondern in die Russische Föderation aufgenommen, nachdem sie sich zuvor nach einem Referendum rechtmäßig von der Ukraine gelöst hatte. Teilen Sie diese Auffassung?

Simma: Nein. Natürlich hat Russland hier ganz klar Völkerrecht verletzt: Wenn wir davon ausgehen, dass die Truppen, die ja noch vor dem Referendum auf der Krim die ukrainischen Stützpunkte blockierten, russische Streitkräfte waren, war das geradezu der Paradefall einer Aggression durch die Verletzung eines Stationierungsabkommens. Auch diverse Drohungen Putins gegenüber der Ukraine waren völkerrechtswidrig.

SPIEGEL: Die neue Führung der Krim durfte Russland also gar nicht zu Hilfe rufen?

Simma: Solche Hilferufe sind ein heikles Thema. Dazu gehört eine gewisse Legitimität des hilferufenden Regimes, schon die ist mehr als zweifelhaft.

SPIEGEL: Gibt es nicht das Selbstbestimmungsrecht der Völker und damit auch ein Recht auf Sezession, die Ablösung von einem bestehenden Staat? Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat 2010 die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo in einem Gutachten ausdrücklich gebilligt - Sie haben daran mitgewirkt.

Simma: Der Gerichtshof hat aber jede Aussage zu einem Recht auf Sezession sorgfältig vermieden. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker gibt normalerweise nur ein Recht auf Selbstverwaltung, auf weitgehende Autonomie. Eine Loslösung der Krim aus der Ukraine wäre völkerrechtlich vielleicht gerechtfertigt gewesen, wenn die Russen dort zuvor brutal unterdrückt worden wären - das ist überhaupt nicht erkennbar.

SPIEGEL: Immerhin sollte es ein neues Gesetz geben, nach dem Russisch keine Amtssprache mehr gewesen wäre.

Simma: Das ist keine Unterdrückung, und dieses Gesetz ist von der Führung in Kiew nicht in Kraft gesetzt worden. Man muss sich mal vorstellen: Dann könnten sich auch die Südtiroler, als Reaktion auf mögliche Einschränkungen des Gebrauchs der deutschen Sprache in der Provinz Bozen, für unabhängig von Italien erklären und das österreichische Heer zu Hilfe holen. In einem solchen Fall sollte man den UN-Sicherheitsrat anrufen - und das haben die Russen nicht getan. Von der erwähnten Rechtfertigung sind wir also meilenweit entfernt.

SPIEGEL: Altkanzler Schmidt zweifelt am rechtlichen Status der Krim, weil die russische Sowjetrepublik diese erst 1954 der Ukraine überließ. Und Putin sagte, damals habe man russisches Verfassungsrecht verletzt.

Simma: Verletzungen innerstaatlichen Rechts haben grundsätzlich keinen Einfluss auf die Wirksamkeit völkerrechtlicher Verträge. Und was auch immer 1954 letztlich die Motive der Sowjetführung waren: Dass die Krim seither zur Ukraine gehörte, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden.

SPIEGEL: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat die Krim-Krise mit der Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich unter Adolf Hitler verglichen. Lag er da so daneben?

Simma: Es ist immer gefährlich, historische Situationen mit der Gegenwart zu vergleichen, und erst recht verbietet sich ein Vergleich von Hitler mit dem russischen Präsidenten. Trotzdem steckt in dem Hinweis auf die Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei ein wahrer Kern: Die Ausgangssituation war damals ähnlich, und auch die Eingliederung des Sudetenlandes ins Deutsche Reich war trotz des sogenannten Münchner Abkommens von 1938 völkerrechtswidrig.

SPIEGEL: Was spricht dann für Putin?

Simma: Man muss doch folgende Dinge sehen: Russland hat ein extrem starkes geostrategisches Interesse, was die Ukraine betrifft. Der Westen hat Russland mit dem Angebot der Assoziierung an die EU geradezu herausgefordert. Und er hat selbst oft genug das Völkerrecht so stiefmütterlich behandelt, dass es jetzt zu einem Bumerang-Effekt kommt.

SPIEGEL: Das müssen Sie erklären.

Simma: Nachdem in der Ukraine Präsident Wiktor Janukowitsch entmachtet wurde, habe ich damit gerechnet, dass Russland sich die Krim zurückholen würde. Sewastopol, der wichtigste Zugang zum Schwarzen Meer und damit zum Mittelmeer, das ist für Russland viel zu bedeutsam, um dies dem Einfluss des Westens und damit womöglich sogar der Nato zu überlassen. Die Ukraine ist gewissermaßen das strategische Vorfeld Russlands. Dass eines Tages Nato-Seestreitkräfte in Sewastopol geankert hätten, ist für die Russen unvorstellbar. Manche Staaten, und dazu gehört die Ukraine, haben das Pech, geografisch und politisch so gelegen zu sein, dass sie bestimmte Möglichkeiten nicht haben.

SPIEGEL: Sie akzeptieren Russlands geostrategische Interessen mit ziemlicher Selbstverständlichkeit. Vor dem Völkerrecht sind doch alle Staaten gleich.

Simma: Rechtlich schon, aber politisch ist die Ukraine schlicht nicht so frei wie andere Staaten. Die ukrainischen Revolutionäre haben mit dem Feuer gespielt, und sie haben sich die Finger verbrannt. Als 1856, nach dem sogenannten Krim-Krieg, das Schwarze Meer für neutral erklärt wurde, hat das gerade mal 15 Jahre gehalten. Das militärische Interesse Russlands an der Krim ist zu groß - daran hat sich bis heute nichts geändert. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat jetzt gesagt: Ein Nato-Beitritt der Ukraine kommt nicht in Frage. Solche klaren Worte hätte man sich viel früher gewünscht.

SPIEGEL: Es ging doch zunächst nur um eine Assoziierung mit der EU.

Simma: Der Westen hat es aber versäumt, gleichzeitig vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber Russland einzuleiten. Man hat bei Putin den Eindruck erweckt, man wolle ein Kernstück der ehemaligen Sowjetunion unter westlichen Einfluss bringen - dabei ist die EU jedenfalls zu forsch und unklug vorgegangen. Auch dass US-Präsident Barack Obama Russland nun als Regionalmacht bezeichnet hat, passt in dieses Bild: Denn das ist provokant und verkennt die Situation. Wenn so etwas zwischen Bulgarien und Rumänien passiert wäre, hätte man eingreifen können. Bei Russland ist der Westen machtlos.

SPIEGEL: Wir müssen die Annexion der Krim hinnehmen?

Simma: Im Grunde haben wir das doch schon. Die westlichen Sorgen richten sich jetzt auf die Rest-Ukraine und das Gas. Es geht nur noch darum zu retten, was zu retten ist: dass die Russen nicht auch noch im Osten der Ukraine einmarschieren.

SPIEGEL: Wird die Annexion damit völkerrechtlich wirksam?

Simma: Nein, nicht, solange der Westen das juristisch nicht anerkennt. Aber faktisch wird die Krim unter russischer Herrschaft bleiben. Eine weitgehende Autonomie der Krim im ukrainischen Staatsgebiet wäre vielleicht vorher noch eine Lösung gewesen - einen Weg dahin zurück sehe ich aber nicht. Schon weil sich der Westen damit schwertut, Putin seine Völkerrechtsverletzung ernsthaft vorzuhalten.

SPIEGEL: Warum?

Simma: Leider kann man Putin wenig entgegnen, wenn er in seiner Rede provozierend sagt: "Schau her, die USA entdecken das Völkerrecht - besser spät als nie." Das völkerrechtliche Gewalt- und Interventionsverbot ist in der jüngeren Vergangenheit gerade vom Westen, unter der Führung der USA, immer wieder durchlöchert und aufgeweicht worden: im Irak-Krieg, über dessen angebliche Rechtfertigung man doch heute nur noch staunen kann, oder im Kosovo-Konflikt, als man sich gegenüber Rest-Jugoslawien auf den Gedanken einer humanitären Intervention berief. Und wenn irgendwo in der Welt ein Umsturz geschieht, der dem Westen gelegen kommt, wie jetzt in Ägypten, als der gewählte Präsident Mohammed Mursi gestürzt wurde, wird dies vom Westen akzeptiert - wenn nicht, dann nicht. So hat Putin eben auch, wie es ihm passte, die Regierung auf der Krim anerkannt, die in Kiew dagegen nicht. Putin war jetzt sicher besonders dreist, aber er hatte gute Lehrmeister. Der Vorwurf des Westens, Putin habe Völkerrecht verletzt, stimmt - aber er ist auch scheinheilig.

SPIEGEL: Muss die Ukraine jetzt also für die Sünden des Westens büßen?

Simma: Nein. Aber wenn man mit Russland wieder ins Gespräch kommen will - und das muss man -, sollte man dabei nicht allzu rechthaberisch sein, weil sich der Westen dafür in der Vergangenheit selbst zu viel herausgenommen hat. Vielleicht ist der Schock ja auch heilsam: wenn man sieht, wozu der allzu großzügige Umgang mit völkerrechtlichen Regeln führen kann. Heute nehmen wir uns etwas heraus, morgen die anderen. Der Westen sollte daraus lernen, künftig wieder mehr Respekt gegenüber dem Völkerrecht walten zu lassen.

Interview: Dietmar Hipp

Dietmar Hipp

Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126393766.html 7.4. 2014 von Von Dietmar Hipp