Der
erste Alleingang
22.03.2011
TRIPOLIS/PARIS/BERLIN
(Eigener
Bericht) - Nach mehreren Tagen schwerer Luftangriffe auf Libyen verteidigt
Bundeskanzlerin Merkel die deutsche Enthaltung im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung
über die aktuellen Attacken. Es gebe "immer eine Arbeitsteilung im
internationalen Bereich", erklärt Merkel über die Nichtbeteiligung der
Bundeswehr; auch andere Staaten seien in manche UN-Interventionen nicht
involviert. Tatsächlich verweigert sich die Bundesregierung mit ihrem Schritt
zum wiederholten Male einer besonders von Frankreich forcierten
Militäroperation, von der sich Paris deutliche Vorteile im Norden Afrikas
erhofft - nicht unbegründet: In Benghasi, der Hochburg der nun auch militärisch
unterstützten Aufständischen, wird inzwischen Frankreich bejubelt. Berlin, das
im Februar noch seine Bereitschaft zu kriegerischen Schritten hatte erkennen
lassen, macht zugleich klar, dass es seine nationalen Interessen über die
Bündnissolidarität stellt. Die Bundesregierung habe "zum ersten Mal seit
1949 einen Alleingang gewagt", resümiert ein hochrangiger deutscher
Militär.
"Ein Fehler"
In
Berlin dauert der Streit um die Weigerung der Bundesregierung an, dem
westlichen Angriff auf Libyen im UN-Sicherheitsrat zuzustimmen. Während
prominente Regierungsmitglieder den Schritt verteidigen, äußern Politiker
beinahe aller Parteien scharfe Kritik. Der ehemalige Parlamentarische
Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium Friedbert Pflüger (CDU) nennt die
Enthaltung Deutschlands in der UNO-Abstimmung einen "schweren
Fehler"; der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
Philipp Mißfelder, distanziert sich von ihr.[1] Auch bei SPD sowie Bündnis
90/Die Grünen wird Unmut laut. Die Enthaltung sei "falsch", urteilt
der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Dasselbe äußert der
Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Jürgen Trittin.[2] Die gleiche
Einschätzung vertritt der einstige Generalinspekteur der Bundeswehr Klaus
Naumann in den Medien: Es sei ein Fehler gewesen, die Zustimmung zu
verweigern.[3]
Interventionspläne
Der
deutschen Enthaltung gingen heftige internationale Auseinandersetzungen voraus.
Berlin hatte zunächst eine militärische Intervention selbst in Betracht
gezogen. Ende Februar war die Bundesrepublik einer der ersten Staaten, die ihre
Marinestreitkräfte vor die nordafrikanische Küste entsandten.[4] Zu diesem
Zeitpunkt schloss auch Außenminister Westerwelle einen Kriegseinsatz explizit
nicht aus.[5] Zweifel hegten vor allem US-Militärs und US-Verteidigungsminister
Robert Gates: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine militärische Operation sich
nicht eingrenzen lasse und zu einem dritten Krieg in einem islamisch geprägten
Land eskaliere, sei hoch; dies jedoch könne man sich angesichts der bevorstehenden
Niederlage in Afghanistan kaum leisten.[6]
Vive la France!
Vor
knapp zwei Wochen begann dann Paris, sich lautstark als Unterstützer der
Aufständischen in Libyen und Befürworter von Militärschlägen gegen das
Gaddafi-Regime zu profilieren. Frankreich hat seit Jahresbeginn in Nordafrika -
insbesondere in Tunesien, aber auch in Ägypten - dramatisch an Einfluss
verloren, während Deutschland nicht ohne Erfolg versucht, die dortigen
Umwälzungen zum Ausbau der eigenen Stellung zu nutzen.[7] Am 10. März preschte
Paris mit der Anerkennung der libyschen Aufständischen als legitime Vertretung
des Landes vor und machte sich gleichzeitig für die Durchsetzung einer
Flugverbotszone und für eventuelle Militärschläge stark. Dem Ziel, sich bei den
Aufständischen als engster Partner zu etablieren, um nach deren Sieg die
eigenen Positionen in Nordafrika wieder aufzuwerten, hat sich die Pariser
Regierung konsequent verschrieben. Noch am Wochenende sprach sie sich dagegen
aus, die NATO in die Angriffe auf Libyen einzubeziehen: Sie will baldmöglichst
selbst von den USA die Führung über die Militäroperationen übernehmen.[8] In
Benghazi hat Frankreich sich damit schon jetzt exklusive Sympathien der
Aufständischen verschafft; Beobachter berichten von profranzösischen Sprühparolen
("Vive la France!").[9]
Isolation
Zu
Wochenbeginn positionierte sich daher die Bundesregierung gegen militärische
Interventionen in Libyen: Ein Kriegseinsatz, der letztlich die Stellung des
französischen Rivalen stärkt, kommt für sie prinzipiell nicht in Frage.
Deutsche Regierungsberater forderten bereits vor Jahren, sich nicht in Afrika
für Interessen Frankreichs zu verkämpfen [10]; die Intervention im Kongo 2006
war deshalb die letzte, die auf französisches Drängen mitgetragen, allerdings
auch pünktlich beendet wurde. In den Jahren darauf sabotierte Berlin
erfolgreich die von Paris verlangte EU-Intervention im Tschad [11] sowie
nichtmilitärische Versuche Frankreichs, die EU zur Stärkung seiner Stellung in
Nordafrika zu nutzen ("Mittelmeer-Union") [12]. Auf dieser Linie lag
auch die Entscheidung, in Libyen nicht militärisch zu intervenieren. Berlin
glaubte sich zunächst noch im Einklang mit den US-Militärs, die sich jedoch
Mitte letzter Woche einem überraschenden Kurswechsel im Weißen Haus beugen
mussten: US-Präsident Obama vollzog einen Schwenk und gab den Weg für die
aktuellen Angriffe auf Libyen frei.[13] Berlin wurde davon überrascht.
Erstmals seit 1949
Dass
die Bundesregierung sich dem für Frankreich günstigen US-Schwenk entzog und bei
ihrer Ablehnung der Intervention blieb, wird nun vor allem von überzeugten
Transatlantikern in Berlin scharf kritisiert: Deutschland gerate, heißt es, im
Westen in Isolation. Wie der Vorsitzende des Innenausschusses des Deutschen
Bundestages, Wolfgang Bosbach (CDU), erklärt, habe die Enthaltung im
UN-Sicherheitsrat "bei vielen zu Irritationen" geführt; man hätte
sich keinesfalls von seinen Partnern isolieren dürfen.[14] Ähnlich äußern sich
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und Theo Waigel (CSU) sowie hochrangige
Politiker von Bündnis 90/Die Grünen (Jürgen Trittin, Cem Özdemir). Der
Kanzlerin sei es nicht gelungen, "die Kritiker, die vor einer Isolation
Deutschlands innerhalb der Nato und der Europäischen Union warnten, (...) zu
überzeugen", heißt es in der transatlantisch orientierten Presse.[15] Noch
deutlicher äußert sich Ex-Bundeswehr-Generalinspekteur Klaus Naumann:
"Deutschland hat zum ersten Mal seit 1949 einen Alleingang gewagt - und
sich selbst international isoliert".[16]
Besser alleine?
Tatsächlich
zeigt die deutsche Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zweierlei: Zum einen, dass
Berlin nicht mehr bereit ist, außenpolitische Zugeständnisse an europäische
Rivalen wie etwa Frankreich zu machen; entsprechend scharf sind die Äußerungen
aus Paris, wo es heißt, die Stimmenthaltung sei ein "Fehler mit
unabsehbaren politischen Kosten".[17] Zum anderen lässt sie erkennen, dass
in Berlin mittlerweile der Wille nicht nur zum "europäischen"
Alleingang - wie im Falle des Krieges gegen den Irak 2003 -, sondern auch zum
nationalen Alleingang vorhanden ist. Dieser Tatsache kommt Bedeutung zu, da in
jüngster Zeit in Berlin immer wieder darüber diskutiert wird, ob die
Bundesrepublik nicht "alleine schneller, weiter und besser vorwärts
kommen" könne als innerhalb der Europäischen Union
(german-foreign-policy.com berichtete [18]). Die Berliner Libyen-Politik kann
bald erste Hinweise dazu geben. Tatsächlich kritisieren zahlreiche Staaten in
aller Welt, von den Mitgliedern der Afrikanischen Union über die Mehrheit der
Regierungen Lateinamerikas und einflussreiche arabische Kräfte bis hin zu
Russland, die Militärschläge gegen Libyen. Das könnte Berlin auf lange Sicht
neue Spielräume eröffnen - auch für den Fall, dass die EU in der aktuellen
Euro-Krise ernsthaften Schaden nimmt.
[1]
Deutsche Politiker zwischen richtig und falsch; www.tagesschau.de 21.03.2011
[2], [3] Harte Kritik an der Libyen-Politik der Bundesregierung;
www.derwesten.de 21.03.2011
[4] s. dazu Der Zerfall
eines Partnerregimes (II)
[5] Gaddafi wird zum Diktator ohne Land; www.spiegel.de 27.02.2011
[6] Obama Determined to Stay Out of Libya; www.newsmax.com 09.03.2011
[7] s. dazu Die alte
Fremdbestimmung und Einflusskampf am
Nil (II)
[8] Putin wirft Westen Kreuzzug gegen Gaddafi vor; www.spiegel.de 21.03.2011
[9] Die Flugabwehr schießt jetzt vor Freude; Frankfurter Allgemeine Zeitung
21.03.2011
[10] s. dazu Schrumpfende
Spielräume und Vorposten
[11] s. dazu Hegemonialkonkurrenten
und Transatlantische
Front
[12] s. dazu Im Schatten
und Kein Gegenpol
[13] Über den Kurswechsel heißt es, es habe sich die prinzipiell
interventionistische Fraktion um US-Außenministerin Clinton durchgesetzt.
Obamas Krieg; Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.03.2011
[14] Bosbach kritisiert deutsche Enthaltung im Weltsicherheitsrat;
www.presseportal.de 21.03.2011
[15] Kanzlerentscheidung; Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.03.2011
[16] Harte Kritik an der Libyen-Politik der Bundesregierung; www.derwesten.de
21.03.2011
[17] Frankreich freut und ärgert sich; Frankfurter Allgemeine Zeitung
19.03.2011
[18] s. dazu Die neue
deutsche Frage (I)
Quelle:
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58033