Syrien: Syrischer Außenminister Walid
Al-Muallim- Interview mit AFP
Moment der Wahrheit
Syriens Belehrer werfen aus einem archaischen Glashaus mit Steinen
Die Genf-II-Konferenz steht vor d. Wahl: Terrorismus gemeinsam bekämpfen
oder unterstützen
von Walid Al-Muallim
junge Welt dokumentiert auszugsweise die Rede des
syrischen Außenministers Walid Al-Muallim zum Auftakt der Genf-II-Konferenz am
gestrigen Mittwoch.
Meine Damen und Herren, (…). Nie zuvor war ich in
einer schwierigeren Situation. Meine Delegation und ich tragen die Last von
drei Jahren der Not, durchlitten von unseren Landsleuten: das Blut unserer
Märtyrer, die Tränen unserer Hinterbliebenen, die Qualen der Familien, die auf
Nachrichten von ihren Liebsten warten – entführt oder vermisst – die Schreie
unserer Kinder, deren zarte Finger zum Ziel von Mörsergranatbeschuss in ihren
Klassenzimmern wurden (…). Meine Delegation und ich tragen auch die Hoffnung einer
Nation für die kommenden Jahre: Das Recht jedes Kindes wieder sicher zur Schule
zu gehen. Das Recht der Frauen, aus dem Haus zu gehen, ohne Angst zu haben,
entführt, getötet oder vergewaltigt zu werden. Den Traum unserer Jugend, ihr
großes Potential auszuschöpfen. Die Rückkehr zur Sicherheit, so dass jeder Mann
seine Familie sicher zurücklassen kann, in der Gewißheit, dass er wiederkommen
wird.
Es ist bedauerlich, meine Damen und Herren, dass in diesem Raum heute
Repräsentanten von Ländern unter uns sind, die Blut von Syrern an ihren Händen
haben, Länder, die Terrorismus exportiert haben zusammen mit Gnade für die
Täter, so als ob es ihr gottgegebenes Recht wäre, zu bestimmen, wer in den
Himmel kommt und wer in die Hölle. (…) Länder, die sich selbst die Autorität
gegeben haben, anderen Legitimität zu verleihen oder zu verwehren, so wie sie
es für richtig hielten, ohne jemals ihre eigenen archaischen Glashäuser zu
betrachten, bevor sie Steine auf anerkannte befestigte Türme warfen. Länder,
die uns schamlos über Demokratie, Entwicklung und Fortschritt belehren, während
sie in ihrer eigenen Ignoranz und ihren mittelalterlichen Normen ertrinken. (…)
Lügen und Waffen
Sie haben Syrien belehrt, (…) während sie selbst im
Schlamm von Versklavung, Kindesmord und anderen mittelalterlichen Praktiken
versunken sind. Nach all ihren Bemühungen und darauffolgenden Scheitern sind
ihre Masken von ihren zitternden Gesichtern gefallen und haben ihre perversen
Ambitionen entblößt. Ein Verlangen, Syrien zu destabilisieren und zerstören,
indem sie ihr nationales Produkt exportieren: Terrorismus. Sie haben ihre Petrol-Dollar
benutzt, um Waffen zu kaufen, Söldner zu rekrutieren und Sendezeit
vollzustopfen, um ihre stumpfsinnige Brutalität unter der Tarnung der
sogenannten »Syrischen Revolution, die die Hoffnungen des syrischen Volkes
erfüllen wird« mit Lügen zu verschleiern.
Meine Damen und Herren, wie soll das, was passiert ist und Syrien weiter quält,
diese Hoffnungen erfüllen? Wie können tschetschenische, afghanische, saudische,
türkische oder sogar französische und englische Terroristen die Hoffnungen des
syrischen Volkes bedienen und womit? Ein islamischer Staat, der vom Islam
nichts als perverses weiß. Wahhabismus? Wer hat denn überhaupt erklärt, dass
das syrische Volk es anstrebt, Tausende Jahre in der Vergangenheit zu leben?
In Syrien, meine Damen und Herren, werden schwangere Frauen abgeschlachtet und
ihre Föten getötet; Frauen werden vergewaltigt, tot oder lebendig, in
Praktiken, die so abscheulich, so niederträchtig und so widerlich sind, dass
sie nur einer perversen Doktrin zugeschrieben werden können. In Syrien, meine
Damen und Herren, werden Männer im Namen dieser Revolution vor ihren Kindern
abgeschlachtet; schlimmer noch, das wird getan, während die Kinder dieser ausländischen
Täter singen und tanzen. Wie können sogenannte Revolutionäre in Syrien das Herz
eines Menschen verzehren und behaupten, Freiheit, Demokratie und ein besseres
Leben voranzutreiben? Unter dem Vorwand der »Großen Syrische Revolution« werden
Zivilisten, Geistliche, Frauen und Kinder getötet, Opfer werden wahllos in den
Straßen und in Gebäuden in die Luft gesprengt, unabhängig von ihren politischen
Ansichten oder Ideologien; Bücher und Bibliotheken werden verbrannt, Gräber
ausgehoben und Artefakte gestohlen. Im Namen der Revolution werden Kinder in
ihren Schulen ermordet und Studenten in ihren Universitäten, Frauen erpresst,
Moscheen werden beschossen, während Gläubige zum Gebet knien, Köpfe werden
abgetrennt und in den Straßen aufgehängt, Menschen werden lebendig verbrannt in
einem regelrechten Holocaust, den die Geschichte und viele Länder leugnen
werden, ohne des Antisemitismus’ beschuldigt zu werden. (…)
Meine Damen und Herren, alles was sie gehört haben, wäre nicht möglich gewesen,
wenn unsere angrenzenden Länder während dieser schweren Jahre gute Nachbarn
gewesen wären. Leider waren sie davon weit entfernt; mit Rückenstechern im
Norden, stummen Schaulustigen im Westen, einem schwachen Süden, gewohnt, dem
Geheiß anderer zu folgen, oder dem müden und erschöpften Osten, noch immer
taumelnd aufgrund der Pläne, ihn zusammen mit Syrien zu zerstören.
In der Tat wurde die Misere und Zerstörung, die Syrien erfasst hat, durch die
Entscheidung der Regierung Erdogan ermöglicht, diese kriminellen Terroristen
einzuladen und aufzunehmen, bevor sie nach Syrien kamen. Offensichtlich sich
nicht der Tatsache bewusst, dass der Zauber sich letztendlich gegen den Magier
wendet, schmeckt sie jetzt langsam die sauren Keime, die sie gesät hat. Denn
Terrorismus kennt keine Religion und ist nur sich selbst gegenüber loyal. (…)
Trotzdem ist sie auf dem gleichen grausamen Pfad weitergegangen, in dem
falschen Glauben, dass der Traum von Syyid Qutb und Mohammed Abdel Wahab
letztendlich realisiert würde. Sie haben von Tunesien über Libyen bis Ägypten
und dann in Syrien für Chaos gesorgt, entschlossen, eine Illusion zu erreichen,
die nur in ihren kranken Köpfen existiert. (…)
Nachbarn legen Feuer
Einige Nachbarn haben in Syrien Feuer gelegt,
während andere rund um den Globus Terroristen rekrutiert haben – und hier sind
wir nun bei den schockierend absurden Doppelstandards: 83 Nationalitäten
kämpfen in Syrien – niemand brandmarkt das, niemand verurteilt das, niemand
überdenkt seine Position – und sie sprechen unverschämt weiter von der
glorreichen syrischen Revolution! (…) Trotz allem ist das syrische Volk
standhaft geblieben, und die Antwort waren Sanktionen für unser Essen, für
unser Brot und unserer Kinder Milch, um unsere Bevölkerung verhungern zu
lassen, sie in Krankheit und Tod zu treiben. Gleichzeitig wurden Fabriken
geplündert und niedergebrannt, unsere Lebensmittel und Arzneiindustrie gelähmt;
Krankenhäuser und Gesundheitszentren zerstört, Schienen und Stromleitungen
sabotiert und selbst unsere Gebetsorte – christliche und muslimische – blieben
nicht vom Terrorismus verschont.
Als all das scheiterte, drohte Amerika, Syrien anzugreifen, fabrizierte mit
seinen Alliierten, westlichen und arabischen, die Geschichte über den Einsatz
von Chemiewaffen, die es nicht einmal schaffte, ihre eigene Öffentlichkeit zu
überzeugen, von unserer ganz zu schweigen. Länder, die Demokratie, Freiheit und
Menschenrechte zelebrieren, haben leider nur die Sprache von Blut, Krieg,
Kolonialismus und Hegemonie gesprochen. Demokratie wird mit Feuer aufgezwungen,
Freiheit mit Kampfflugzeugen und Menschenrechte mit dem Morden von Menschen,
weil sie sich daran gewöhnt haben, dass die Welt ihrem Geheiß folgt. Wenn sie
etwas wollen, wird es passieren; wenn sie es nicht wollen, passiert es nicht.
Sie haben achtlos vergessen, das die Angreifer, die sich in New York in die
Luft gesprengt haben, der gleichen Doktrin folgen und aus der gleichen Quelle
kommen, wie die, die sich in Syrien in die Luft sprengen. Sie haben achtlos
vergessen, dass der Terrorist, der gestern in Amerika war, heute in Syrien ist,
und wer weiß, wo er morgen sein wird. Was sicher ist, ist, dass er hier nicht
aufhören wird. Afghanistan ist eine gute Lektion für jeden, der lernen will –
jeden! Leider wollen die meisten nicht lernen, weder Amerika noch einige der
»zivilisierten« westlichen Länder, die ihm folgen. (...)
Und plötzlich sind sie »Freunde Syriens« geworden. Vier dieser »Freunde« sind
autokratische Unterdrücker-Monarchien, die nichts über einen zivilen Staat oder
Demokratie wissen, während die anderen die gleichen Kolonialmächte sind, die
Syrien vor nicht einmal hundert Jahren besetzt, geplündert und aufgeteilt
haben. Wir sind hier als Repräsentanten des syrischen Volkes und des Staates,
aber lassen es für alle klar sein (…), daß niemand die Autorität hat, einem
Präsidenten, einer Regierung, einer Verfassung, einem Gesetz oder irgend etwas
sonst Legitimität zu verleihen oder entziehen, außer dem syrischen Volk selbst.
Daher wird jegliches Abkommen, das hier erreicht wird, Inhalt eines nationalen
Referendums sein. (…) Heute, bei dieser Zusammenkunft arabischer und westlicher
Mächte, haben wir eine einfache Wahl: Wir können uns entscheiden, Terrorismus
und Extremismus zusammen zu bekämpfen und einen neuen politischen Prozess zu
beginnen, oder Sie können weiterhin Terrorismus in Syrien unterstützen. (…)
Dies ist der Moment der Wahrheit und des Schicksals; lasst uns dieser
Herausforderung stellen. Danke.
http://www.jungewelt.de/2014/01-23/052.php vom 23.1.2014
Übersetzung aus dem Englischen: Christian Selz