Wikileaks-Gründer bekommt weltweit Zuspruch und
setzt sich vor Gericht durch, kann die
Botschaft Ecuadors in London aber trotzdem nicht
verlassen.
Ein Gespräch mit Julian Assange
Interview: Amy Goodman
Seit
einem Jahr muß Wikileaks-Gründer Julian Assange in der ecuadorianischen
Botschaft in London ausharren. Großbritannien verwehrt ihm freies Geleit nach
Lateinamerika. Im Dezember 2010 war Assange in Großbritannien auf Antrag
Schwedens festgenommen worden, weil ihm zwei Schwedinnen sexuelle Übergriffe
vorwarfen. Offiziell soll er in der Sache verhört werden. Assange fürchtet
allerdings, letztlich an die USA ausgeliefert zu werden. junge Welt
dokumentiert stark gekürzt ein Interview mit dem 41jährigen
Botschaftsflüchtling, das am 29. Mai 2013 auf democracynow.org veröffentlicht
wurde. Übersetzung: Jürgen Heiser Am 27. Mai 2013 hat der
Außenminister Ecuadors, Ricardo Patiño, der britischen Regierung vorgeworfen,
Ihre Menschenrechte mit Füßen zu treten, weil Ihnen nicht gestattet werde, nach
Ecuador auszureisen, wo Ihnen vor einem Jahr politisches Asyl gewährt wurde.
Patiño erklärte, er bereite ein Dokument vor, das Britannien verpflichtet,
Ihnen zu erlauben, die Botschaft zu verlassen und nach Südamerika auszureisen.
Welche Bedeutung hat das für Sie und welche Pläne haben Sie? Die
Regierung Ecuadors und Außenminister Patiño unterstützen mich aus vollen
Kräften. Sie tun das, seit sie meinen Asylantrag zwei Monate lang geprüft
haben. Er enthielt viele Belege, von denen die meisten auf www.svwikileaks.org oder justice4assange.com öffentlich zugänglich sind. Rechtlich ist die Sache
klar. Ich wurde bislang nicht wegen eines Strafdelikts angeklagt. Schweden weigert
sich jedoch zu garantieren, mich nicht an die USA auszuliefern. Auch ohne
Anklage soll ich sofort in Haft genommen werden, um die Voruntersuchungen
abzusichern, wie sie das nennen. Schweden lehnt es ab, sich wie jeder andere
europäische Staat auch normaler juristischer Verfahrensweisen zu bedienen.
Auch vom Völkerrecht her ist die Sache völlig klar. Es gilt sowohl
innerstaatlich im Vereinigten Königreich und besagt, daß Asylrecht über allen
anderen Gesetzen steht, als auch auf der internationalen Ebene, weil das
Vereinigte Königreich vertragliche Beziehungen zu den Vereinten Nationen
unterhält. Deshalb müßte es die Entscheidung eines anderen Staates – hier
Ecuador – einhalten. Rechtlich ist das völlig klar. Aber die Regierung des
Vereinigten Königreichs verstößt gegen das Völkerrecht. Und warum? Das ist vor
allem eine Prestigefrage. Erst vor einer Woche hat die britische Regierung
zugegeben, in den letzten elf Monaten fünf Millionen US-Dollar für meine
Bewachung hier in der Botschaft ausgegeben zu haben.
Wie
sehen Sie die Zukunft von Wikileaks, wohin könnte es sich entwickeln? Welche
Ziele verfolgen Sie mit Wikileaks?
Jedes Gesetz, jede
Verfassung, jede regulative Entscheidung gründet sich auf dem, was Menschen in
ihrer Gesellschaft diskutieren. Alles basiert auf unserem gemeinsamen
Wissensschatz aus Vergangenheit und Gegenwart. Das wird klarer, wenn wir es
einmal überzeichnen, wenn wir uns also vorstellen, daß niemand mehr mit anderen
kommunizieren kann, daß alle Bücher verbrannt sind. Dann gibt es keine
Verbindung mehr zur Vergangenheit und keine Verbindung mehr untereinander in
der Gegenwart. Im Ergebnis wären alle zivilen Bereiche der Gesellschaft, alle
guten Erkenntnisse, wie man Dinge macht, vergessen, und es gäbe einen völligen
Zusammenbruch. Alle Gesetze, Regeln, Verfassungen würden einfach verschwinden.
Menschen könnten nicht mehr miteinander kommunizieren. Sie wären wie Steine
oder wilde Tiere. Sie wären taub und stumm.
Das Internet hat uns aber weltweit in eine bemerkenswerte Periode politischer Bildung
geführt. Das ist die großartigste Phase politischer Bildung, die es im Hinblick
auf die große Zahl der daran beteiligten Menschen je gegeben hat. Als der
Buchdruck erfunden wurde und wir in die Lage versetzt wurden, Bücher frei zu
publizieren, und als sich andere Formen der Kommunikation entwickelten wie die
Briefpost, war es jedoch noch nicht möglich, diese Kommunikation zentral zu
kontrollieren. Die Leute konnten also Informationen darüber austauschen, wie
die Welt funktioniert. Die Entwicklung der Menschheit nahm dadurch einen
enormen Aufschwung. Die Frage ist also: Können wir das heute übertreffen? Genau
das ist das Ziel von Wikileaks. Wir sind die Avantgarde der freien Presse und
dadurch auch die Avantgarde beim Hüten des Wissensschatzes der Menschheit.
Wie groß
ist der Raum in der Botschaft, in dem Sie leben?
Es ist ein kleines Apartment.
Aber ich kann mich darüber nicht beklagen und schon gar nicht über die
Botschaftsangestellten, die mich voll unterstützen und die Störungen in den
normalen Geschäftsabläufen in der Vertretung mit großer Geduld ertragen. Auch
sie sind von Ausweisung bedroht. Die Briten haben daraus kein Hehl gemacht. Zu
Beginn postierten sich hier einmal mitten in der Nacht 30 Polizisten rings um
das Gebäude, andere seilten sich vom Dach ab, das war eine klare Drohung, die
Botschaft rechtswidrig zu stürmen. Für die Angestellten, die hier seit vielen
Jahren mit ihren Familien, mit ihren Kindern leben, ist das eine schwierige
Situation.
Durch die ständige Überwachung ist es für mich unmöglich, mich mit potentiellen
Informanten zu treffen. Ich kann auch viele der Wikileaks-Mitarbeiter nicht
treffen, weil sie dadurch in eine prekäre Situation gerieten. Momentan ist es
auch schwierig für mich, meine Aktivitäten zu entfalten, zum Beispiel jetzt für
die Parlamentswahlen in Australien zu kandidieren. Aber den Journalisten, die
geradezu verzweifelt gern hören würden, wie ich unter diesen Bedingungen leide,
kann ich nur sagen, daß ich hier keineswegs leide. Ich setze mein Lebenswerk
fort, und wir gewinnen diesen Kampf. Da gibt es seit dem letzten Jahr eine ganz
klare Perspektive. Wir gewinnen vor Gericht. Wir gewinnen politisch rund um die
Welt. Ich habe also meine Arbeit, leiste mir selbst Gesellschaft, und das alles
läuft sehr gut.
Bedenken Sie, wir standen ganz knapp vor der Situation, daß die USA als
Reaktion auf unsere Veröffentlichungen Wikileaks als Organisation zerschlagen
und einige ihrer wichtigsten Mitarbeiter fertigmachen wollten. Es war uns zu
dem Zeitpunkt völlig klar, daß die Organisation im Ergebnis zerstört werden
könnte. Aber vor allem die Veröffentlichung der diplomatischen Depeschen des
US-Außenamts war historisch so wichtig, so bedeutsam. Das war der größte
politische Informationsschatz, der je veröffentlicht wurde, über 3000
Datensätze darüber, wie die Welt funktioniert – aber nicht, wie sie vor 100
Jahren funktionierte, sondern wie sie ganz aktuell heute funktioniert! Das war
von so großer Bedeutung, daß es richtig war, sowohl unsere Freiheit dafür zu
riskieren als auch den Fortbestand der Organisation. Aber wir haben es
geschafft, das durchzustehen. Die Organisation existiert weiter. Wir haben in
den letzten zwölf Monaten über eine Million Dokumente veröffentlicht. Und die
Zahl steigt weiter. Unsere rechtliche und unsere politische Position haben wir
im Laufe der Zeit weiter verstärkt. Die Öffentlichkeit des gesamten
lateinamerikanischen Kontinents unterstützt Wikileaks nach Kräften, das geht
bis in die Regierungsebenen hinein.
Woraus
entnehmen Sie, daß Sie gewinnen?
In Australien gab es drei
Meinungsumfragen, wonach 26 bis 28 Prozent der Befragten dahin tendieren, mir
bei den Parlamentswahlen am 14. September ihre Stimme zu geben. 40 Prozent der
unter 30jährigen und 36 Prozent der Befragten im beliebtesten Bundesstaat New
South Wales, in dem Sydney liegt, würden mich wählen.
Dann ist auf Seiten der US-Regierung und des Pentagon eine bestimmte Angst
festzustellen, sich öffentlich über uns zu äußern. Die Zeit der Manie des
Neo-McCarthyismus, die 2011 bezüglich Wikileaks noch vorherrschte, ist vorbei.
Damals meinten Politiker wie US-Senator Joseph Lieberman und der
Kongreßabgeordnete Peter T. King, sie könnten Gesetze vorschlagen, mit denen
meine Mitarbeiter zu »feindlichen Kombattanten« der USA erklärt werden, die man
willkürlich entführen oder töten könnte. Vorbei auch die Tage, als
US-Vizepräsident Joe Biden glaubte, mich vor aller Welt zu einem
»High-Tech-Terroristen« erklären zu können, oder als andere Politiker und
hochrangige Journalisten öffentlich zu meiner Ermordung aufrufen konnten, wie
Bill O’Reilly und andere Leute des Senders Fox oder die Washington Times.
Selbst ein Berater des kanadischen Premierministers Stephen Harper rief offen
zu meiner Ermordung auf. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die Organisation ist
fest entschlossen und fordert Wiedergutmachung.
Zum
Schluß – wo sehen Sie sich in einem Jahr?
In ein paar Monaten werde ich
sehr wahrscheinlich immer noch hier in der Botschaft sein. Aber in einem Jahr
möglicherweise in Ecuador, möglicherweise auch in Australien. Bis zu den Wahlen
in Australien sind es nur noch drei Monate. Das ist nicht so sehr juristisch
bedeutsam, sondern politisch als Ausdruck des Willens des australischen Volkes.
Wir haben es mit der Politisierung verschiedener rechtlicher Auseinandersetzungen
zu tun, und deshalb müssen wir auch politisch damit umgehen.
Quelle: http://www.jungewelt.de/2013/06-19/051.php
»Wir brauchen Whistleblower«
Für die US-Regierung
rangieren die strafrechtliche Verfolgung von Julian Assange und seiner
Enthüllungsplattform Wikileaks sowie die Aktivitäten der beiden »Whistleblower«
Bradley Manning und Edward Snowdon auf höchster politischer Ebene. Der
Nachrichtenanalyst und Obergefreite der US-Armee Manning (25) soll nach der
Lesart des Pentagon durch seine Enthüllungen von diplomatischen US-Depeschen
und Kriegsprotokollen aus Irak und Afghanistan auf Wikileaks gemeinschaftlich
mit Assange (41) dem internationalen Terrorismus in die Hände gearbeitet haben.
Gegen Manning läuft deshalb seit dem 3. Juni ein Militärgerichtsprozeß, in dem
das Pentagon eine Verurteilung zu lebenslanger Haft anstrebt. Snowdon
(28), ehemaliger Mitarbeiter der National Security Agency (NSA), deckte erst
kürzlich das Geheimdienstprogramm »PRISM« auf, das unter dem Befehl des
Pentagon und des Sicherheitsberaters des US-Präsidenten weltweit jede Art der
Tele- und Internetkommunikation bis hin zu den sozialen Netzwerken
ausspioniert. Snowdon ist nach Hongkong geflüchtet und muß befürchten, daß die
Obama-Regierung seine Auslieferung verlangt. »Ich weiß«, erklärte Snowdon am
10.06.2013 in einem Interview des britischen Guardian, »daß ich für mein
Handeln büßen soll.« Aber er werde »zufrieden sein«, wenn er dazu beigetragen
hätte, das Handeln »höchster Exekutivgewalt, von der die Welt, die ich liebe,
beherrscht wird, auch nur für einen Moment zu enthüllen«. Die USA »hacken jeden
überall«. Das geschehe »in fast jedem Land der Welt«, auch wenn »wir uns nicht
im Krieg mit diesen Ländern befinden«. Im selben Interview bezieht Snowdon sich
auf Bradley Manning als »klassischen Whistleblower«, dem es wie ihm selbst »um
das öffentliche Allgemeinwohl« gehe.
Daniel Ellsberg, 1971
Enthüller der Pentagon-Papiere über den Vietnamkrieg, fordert seit Jahren von
der US-Regierung die Einstellung der Verfolgung von Assange und Manning. Er
tritt für die Verteidigung der jungen Generation von »Whistleblowern« ein, die
Freiheit und Leben riskierten, um die Wahrheit über Krieg, Folter,
Datenausforschung und verfassungswidrige Regierungsmaßnahmen öffentlich zu
machen. Ellsberg schalt das von Snowdon offengelegte »PRISM«-Programm im
Guardian einen »Putsch der Exekutive« gegen die US-Verfassung. Die USA
verfügten über »die volle elektronische und legislative Infrastruktur«, um sie
im Fall eines Krieges gegen »eine machtvolle Antikriegsbewegung, wie jene, die
wir gegen den Krieg in Vietnam hatten«, einzusetzen. Die dahinterstehenden
Kräfte seien »extrem gefährlich«, so Ellsberg. Die Demokratie der USA sei
»zerrüttet und deshalb brauchen wir Whistleblower«. (jh)
http://www.jungewelt.de/2013/06-19/050.php