Alles
hat seine Grenzen
Auszüge aus der Rede von Präsident
Wladimir Putin am 18.3.14 vor beiden Häusern des russischen Parlaments sowie
Vertretern der Regionen und der Gesellschaft
Sehr geehrte Mitglieder des Föderationsrats, sehr
geehrte Mitglieder der Staatsduma! Sehr geehrte Vertreter der Republik Krim und
Sewastopols – sie sind hier, unter uns, Bürger Rußlands, Einwohner der Krim und
Sewastopols!
Sehr geehrte Freunde, wir befassen uns heute mit einer Frage, die eine
lebenswichtige Bedeutung hat, eine historische Bedeutung für uns alle. Am 16.
März fand auf der Krim ein Referendum statt, das in voller Übereinstimmung mit
demokratischen Verfahren und völkerrechtlichen Normen verlief. (…)
Zerfall der UdSSR
Nach der Revolution fügten die Bolschewiki aus
verschiedenen Gründen – möge Gott darüber richten – große Teile des
Territoriums im historischen Süden Rußlands zur Unionsrepublik Ukraine. Das
wurde ohne Rücksicht auf die nationale Zusammensetzung der Einwohner vollzogen,
heute ist das der Südosten der Ukraine. 1954 wurde dann entschieden, ihr den
Krim-Bezirk und Sewastopol, obwohl die Stadt direkt der Union unterstand,
zuzuschlagen….
Für uns ist etwas anderes wichtig: Der Beschluß kam unter offensichtlicher
Verletzung sogar der damals geltenden Verfassungsnormen zustande. (…)
Natürlich wurden unter den Bedingungen eines totalitären Staates weder die
Einwohner der Krim noch Sewastopols gefragt. Man stellte sie vor vollendete
Tatsachen. (…)
Was damals unvorstellbar erschien, geschah leider. Die UdSSR zerfiel. Die
Ereignisse entwickelten sich derart stürmisch, dass nur wenige Bürger die ganze
Dramatik des Geschehens und seiner Folgen verstanden. Viele Menschen in
Rußland, in der Ukraine und in anderen Republiken hofften, dass die entstehende
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten eine neue Form von Staatlichkeit werden
könnte. (...) Aber Millionen Russen legten sich in einem gemeinsamen Land
schlafen und wachten hinter Grenzen wieder auf, wurden häufig nationale
Minderheiten in früheren Unionsrepubliken, das russische Volk wurde eines der
größten Völker, um nicht zu sagen, das größte geteilte Volk der Welt.
Kiewer Machthaber
Ich verstehe, warum die Menschen in der Ukraine
eine Veränderung wollten. In den Jahren nach der Unabhängigkeit (…) wechselten
die Präsidenten, die Ministerpräsidenten, die Abgeordneten der Rada, aber ihr
Verhältnis zu ihrem Land und ihrem Volk änderte sich nicht. Sie kämpften
untereinander um die Macht und die Finanzquellen. Dabei interessierte es die
Machthaber wenig, wie die einfachen Leute leben und warum Millionen Ukrainer
für sich in der Heimat keine Perspektive sehen, gezwungen sind, ins Ausland zu
fahren und dort niedrigste Arbeiten zu verrichten. (…) Aber jene, die hinter
den jüngsten Ereignissen in der Ukraine standen, verfolgen andere Ziele: Sie
bereiteten einen Staatsstreich vor, wollten die Macht ergreifen und machten vor
nichts halt. Es kam zu Schießereien und Terror, zu Morden und Pogromen. Die
Hauptakteure des Umsturzes waren Nationalisten, Neonazis, Russophobe und Antisemiten.
Sie bestimmen in vieler Hinsicht bis heute das Leben in der Ukraine. (…) Allen,
die sich dem Putsch widersetzten, begannen sie sofort mit Repressionen zu
drohen. An erster Stelle stand dabei – natürlich – die Krim, die
russischsprachige Krim. Deswegen wandten sich die Einwohner der Krim und
Sewastopols an Rußland mit der Aufforderung, ihre Rechte und ihr Leben zu
verteidigen, (…) Es versteht sich, dass wir diese Bitte nicht abschlagen
konnten, dass wir die Krim und ihre Bewohner nicht in ihrer bedrängten Lage
lassen konnten, alles andere wäre Verrat gewesen.
Vor allem musste Hilfe dabei geleistet werden, Bedingungen für eine
friedliche, freie Willensbekundung zu schaffen, dafür, dass die Krim-Bewohner
zum ersten Mal in der Geschichte ihr Schicksal bestimmen konnten. Was hören
wir jedoch jetzt von unseren Kollegen in Westeuropa und aus Nordamerika? Sie
sagen uns, wir brächen die Normen des Völkerrechts. Erstens ist es gut, dass
sie sich daran erinnern, dass es das Völkerrecht gibt, und – Dank dafür, lieber
spät als niemals.
Und zweitens und am wichtigsten: Was sollen wir verletzt haben? Ja, der
Präsident der Russischen Föderation erhielt vom Oberhaus des Parlaments das
Recht, bewaffnete Kräfte in der Ukraine einzusetzen. Aber dieses Recht hat er
bis jetzt nicht genutzt. Bewaffnete Kräfte Rußlands sind nicht in die Krim
einmarschiert, sie waren dort schon und befanden sich dort in Übereinstimmung
mit einem völkerrechtlichen Vertrag. Ja, wir haben unsere Gruppierung dort
verstärkt, aber überschritten nicht die festgelegte Zahl – ich möchte das
unterstreichen, damit es alle hören und wissen – unserer bewaffneten Kräfte auf
der Krim, die auf 25000 Menschen festgelegt ist, dafür gab es einfach keine
Notwendigkeit.
Weiter. Als der Oberste Rat der Krim die Unabhängigkeit erklärte und das
Referendum begann, befand er sich in Übereinstimmung mit der Charta der
Vereinten Nationen, in der vom Recht auf Selbstbestimmung die Rede ist. Ich
möchte daran erinnern, dass die Ukraine beinahe wörtlich dasselbe tat, als sie
ihren Austritt aus der UdSSR erklärte. In der Ukraine machte man von
diesem Recht Gebrauch, das man den Krim-Bewohnern nicht zubilligt. Warum?
Präzedenzfall Kosovo
Außerdem bewegte sich die Krim-Regierung auf dem
Boden des bekannten Präzedenzfalls im Kosovo, den unsere westlichen Partner
selbst schufen, mit ihren eigenen Händen und in einer Situation, die absolut
analog zu der der Krim war. Sie erkannten die Abtrennung des Kosovo von Serbien
als legitim an und wiesen darauf hin, dass keinerlei Genehmigung der
Zentralmacht des Landes für die einseitige Unabhängigkeitserklärung
erforderlich sei. Der Internationale UN-Gerichtshof stimmte dem auf der
Grundlage von Artikel zwei, Absatz eins der Charta der Vereinten Nationen am
22. Juli 2010 zu und bemerkte dazu folgendes. Ich zitiere wörtlich: »Aus der
Praxis des Sicherheitsrates ergibt sich kein allgemeines Verbot einer
einseitigen Unabhängigkeitserklärung«. Und weiter: »Das allgemeine Völkerrecht
enthält kein irgendwie festgelegtes Verbot einer Unabhängigkeitserklärung.« Das
ist, wie man sagt, klar und deutlich.
Ich ziehe mich nicht gern auf Zitate zurück, kann mich aber nicht
enthalten, einem offiziellen Dokument noch eine Passage zu entnehmen, diesmal
aus einem Memorandum der USA vom 17. April 2009, das eben diesem
Internationalen Gerichtshof zur Kosovo-Anhörung übergeben wurde. Ich zitiere
erneut: »Unabhängigkeitserklärungen können, so oft es auch geschieht, die
innere Gesetzegebung verletzen. Das bedeutet aber nicht, daß damit eine
Verletzung des Völkerrechts geschieht.« Ende des Zitats. (…) Warum ist das, was
Albanern im Kosovo (und wir verhalten uns ihnen gegenüber mit Respekt) möglich
ist, Russen, Ukrainern und Krimtartaren auf der Krim verboten? Erneut stellt
sich die Frage: Warum?
Dazu hören wir aus den Vereinigten Staaten und Europa, dass es sich beim Kosovo
um einen besonderen Fall handelt. Woraus ergibt sich nach Meinung unserer
Kollegen diese Ausschließlichkeit? Angeblich daraus, dass es im Verlauf des
Konflikts im Kosovo viele Opfer gab. Ist das ein juristisches Argument? In der
Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs wird darüber nicht das Geringste
gesagt. Hinzu kommt, Sie wissen es: Es gibt keine doppelten Standards. Es
handelt sich um offensichtlich primitiven und unverblümten Zynismus. Man darf
nicht derart grob seine Interessen betonen, dass man heute einen Gegenstand als
weiß bezeichnet und morgen als schwarz. Soll das etwa heißen, dass jeder
beliebige Konflikt soweit geführt werden soll, dass es Todesopfer gibt?
Fortgesetzter Betrug
Ich sage
es direkt: Wenn die Selbstverteidigungskräfte der Krim gegenwärtig die
Situation nicht unter Kontrolle hätten, dann könnte es dort Tote geben. Gott sei Dank ist das nicht geschehen!
Es gab
auf der Krim nicht einen bewaffneten Zusammenstoß und es gab keine Toten. Was
meinen Sie, warum? Die einfache Antwort: Weil es schwer oder praktisch
unmöglich ist, gegen das Volk und seinen Willen zu kämpfen. In diesem Zusammenhang möchte ich den
ukrainischen Militärangehörigen danken, es handelt sich um kein kleines Kontingent
– 22000 Menschen unter voller Bewaffnung. (…)
In diesem Zusammenhang kommt einem etwas anderes in den Sinn. Uns wird etwas
über irgendeine russische Intervention auf der Krim erzählt, über eine
Aggression. Aus der Geschichte kann ich mich an keinen Fall erinnern, dass eine
Intervention ohne einen einzigen Schuss und ohne Opfer stattfand.
Sehr geehrte Kollegen! Die Situation rund um die Ukraine spiegelt das
wider, was gegenwärtig und im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte in der Welt
stattfand. Nach der Auflösung des bipolaren Systems auf dem Planeten trat nicht
größere Stabilität ein. Die entscheidenden internationalen Einrichtungen wurden
nicht gestärkt, sondern leider oft geschwächt. Unsere westlichen Partner mit
den Vereinigten Staaten von Amerika an der Spitze lassen in ihrer praktischen
Politik nicht das Völkerrecht, sondern das Recht des Stärkeren walten. Sie
beanspruchen in ihrer Auserwähltheit und Ausschließlichkeit, dass ihnen
gestattet ist, das Schicksal der Welt zu bestimmen, dass nur sie im Recht sein
können. (…) Dort, wo sie gegen souveräne Staaten zur Gewalt greifen, bilden sie
Koalitionen nach dem Prinzip »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«. Um
Aggressionen den Anschein von Rechtsförmigkeit zu geben, erwirken sie
Resolutionen internationaler Organisationen, gelingt ihnen das aus irgendeinem
Grund aber nicht, ignorieren sie komplett den Sicherheitsrat der UN und die UN
als Ganzes.
So war es, woran wir uns gut erinnern, 1999 in Jugoslawien. Es war schwer
zu glauben, selbst den eigenen Augen wollte man nicht trauen, aber am Ende des
20. Jahrhunderts gab es wochenlang Bomben- und Raketenschläge auf eine
europäische Hauptstadt – Belgrad – und darauf folgte eine wirkliche
Intervention. Wo war denn die Resolution des UN-Sicherheitsrats dazu, die
solche Handlungen erlaubt hätte? Es gab keine. Und danach kamen Afghanistan,
Irak und die offene Verletzung der Resolution des UN-Sicherheitsrats zu Libyen,
anstelle der Einrichtung einer sogenannten Flugverbotszone begannen auch dort
Bombardements.
Es gab
eine ganze Reihe gelenkter »bunter« Revolutionen. Verständlich war, dass die
Menschen jener Länder, wo sich diese Ereignisse zutrugen, von Tyrannei genug
hatten, vom Elend, vom Mangel an Perspektiven, aber diese Gefühle wurden
zynisch ausgenutzt. Diesen Ländern wurden Standards auferlegt, die in keiner
Weise ihrem Leben entsprachen, nicht ihren Traditionen, nicht der Kultur dieser
Völker. Das Resultat waren nicht Demokratie und Freiheit, sondern Chaos,
Ausbreitung von Gewalt, eine Reihe von Umstürzen. Der »Arabische Frühling« wurde
zum »Arabischen Winter«.
Ein ähnliches Szenario wurde in der Ukraine verwirklicht. (…) Dort wurde jetzt
eine trainierte, gut ausgestatte Armee von Kämpfern hineingeworfen.
Und das zu einer Zeit, da Rußland sich angestrengt um einen Dialog mit unseren
westlichen Partnern bemüht. Wir schlagen beständig eine Zusammenarbeit in
entscheidenden Frage vor, wir wollen das Vertrauen stärken, wir möchten, dass
unsere Beziehungen vielfältig, offen und ehrlich sind. Aber wir sahen keine Schritte
auf uns zu. Im Gegenteil, sie betrogen uns ein ums andere Mal, sie trafen
Entscheidungen hinter unserem Rücken, stellten uns vor vollendete Tatsachen. So
verhielt es sich mit der Ausdehnung der NATO nach Osten, mit der Installierung
einer militärischen Infrastruktur an unseren Grenzen. Sie bekräftigten uns
gegenüber gleichzeitig: »Das berührt euch nicht.« Das ist leicht gesagt, nicht
berühren.
Ebenso verhielt es sich mit dem Raketenabwehrsystem. Ungeachtet all unserer
Warnungen arbeitet die Maschine, bewegt sich. Ebenso war es mit der endlosen
Verzögerung der Verhandlungen zu Visafragen, mit der Verwirklichung einer
ehrlichen Konkurrenz und dem freien Zugang zu den globalen Märkten.
Heute drohen sie uns mit Sanktionen, aber wir leben bereits jetzt mit
zahlreichen Beschränkungen. So verboten z. B. die USA und später auch andere
Staaten bereits während des »Kalten Krieges« in großem Umfang der UdSSR
bestimmte Technologien und Ausrüstungen zu verkaufen. Sie standen auf der
sogenannten Comecon-Liste. Heute haben sie das formal geändert, aber nur
formal, in Wirklichkeit sind viele Verbote aus der Vergangenheit in Kraft. (…)
Man versucht ständig, uns in eine Ecke zu drängen, weil wir eine unabhängige
Position haben. Aber alles hat seine Grenzen. Und im Fall der Ukraine haben
unsere westlichen Partner sich mit dem Teufel eingelassen, führen sich
grob, verantwortungslos und unprofessionell auf. (…)
Übersetzung aus dem
Russischen: Arnold Schölzel
http://www.jungewelt.de/2014/03-19/012.php