Strittige Rechtslage
Juristische Aspekte zur Auflösung der Sowjetunion,
zum Gründungsakt der GUS und zu dem der Ukraine sowie zum Status der Krim
von Knut
Mellenthin am 19.3.2014
Die Bevölkerung der Krim hat am 16.3.14 in einem
Referendum dafür gestimmt, sich von der Ukraine zu trennen und als
selbständiger Staat den Beitritt zur Russischen Föderation anzustreben. Die
Mehrheit für diese Entscheidung ist mit fast 97 Prozent völlig eindeutig. Die
Wahlbeteiligung wird mit 83 Prozent angegeben. Das bedeutet, dass auch viele
Angehörige anderer Volksgruppen für die Trennung gestimmt haben, denn der
russische Bevölkerungsanteil auf der Halbinsel liegt nur bei ungefähr 60
Prozent.
Noch vor der Abstimmung hatten die Regierungen der USA und ihrer Verbündeten
behauptet, dass das Referendum »illegal« und »völkerrechtswidrig« sei. Rußlands
Präsident Wladimir Putin hielt dagegen: Die Abstimmung habe »im Einklang mit
den Vorschriften des internationalen Rechts und der Charta der Vereinten
Nationen« stattgefunden. Putin hat Recht: Die Durchführung eines
Volksabstimmung über irgendeine Frage in irgendeinem Teil irgendeines Landes
kann vielleicht nach den nationalen Gesetzen des betroffenen Staates unrechtmäßig
sein. Ganz sicher berühren die möglichen Probleme aber nicht das internationale
Recht. Das Völkerrecht ist nicht dazu da, um Regierungen vor Meinungsäußerungen
ihrer Bürger, auch in Form von regionalen Volksentscheiden, zu schützen. Wenn
der UN-Sicherheitsrat am vergangenen Sonnabend, einen Tag vor der Abstimmung,
deren Ergebnis mit großer Mehrheit vorbeugend als »ungültig« verurteilen
wollte, demonstriert das nur erneut den Rechtsnihilismus und die
Selbstherrlichkeit, mit der dieses Gremium seit etlichen Jahren arbeitet.
Nur ein russisches Veto verhinderte die Beschlußfassung. Der chinesische
Vertreter enthielt sich einer Stimmabgabe. Das Pekinger Außenministerium
erläuterte dazu: »Die Abstimmung über den Resolutionsentwurf zu diesem
kritischen Zeitpunkt wird nur zur Konfrontation führen und die Lage noch mehr
verkomplizieren.«
Am Montag hat Präsident Putin einen Erlaß unterzeichnet, mit dem er den Willen
Rußlands ankündigte, die Krim-Republik »als souveränen und unabhängigen Staat
anzuerkennen, dessen Stadt Sewastopol einen Sonderstatus hat«. Wegen seiner
Bedeutung als Heimathafen der Schwarzmeerflotte war Sewastopol zur Zeit der
Sowjetunion der Regierung in Moskau direkt unterstellt.
Dürfen die Russen das? Auch in diesem Punkt ist die Berufung auf das
Völkerrecht nicht eindeutig überzeugend. Das internationale Recht ächtet
zwar die Verletzung der territorialen Integrität eines Landes durch äußere
Gewalt oder Gewaltandrohung. Es erklärt aber, entgegen einem weit
verbreiteten Mißverständnis, keineswegs den Bestand aller Staaten in ihren
Grenzen für ewig und unveränderlich. Man muss in diesem Zusammenhang nicht
einmal das Beispiel der Lostrennung des Kosovo von Serbien durch den
NATO-Luftkrieg im Frühjahr 1999 anführen. Schließlich erkennt fast die Hälfte
aller UN-Mitglieder die Eigenstaatlichkeit Kosovos nicht an, und es konnte
zumindest bisher auch nicht Mitglieder der Vereinten Nationen werden. Wohl aber
hat die UNO 1993 Eritrea und 2011 Südsudan als Mitglieder aufgenommen, die
beide als Ergebnis jahrelanger Sezessionskriege entstanden sind.
UN-Mitglieder sind auch die Nachfolgestaaten
Jugoslawiens, die durch einseitige Unabhängigkeitserklärungen entstanden,
ebenso wie die der Tschechoslowakei und der Sowjetunion.
Austrittswelle
aus UdSSR
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass
der gegenwärtige Konflikt um die Krim ein Ergebnis der Auflösung des größten
Flächenstaats der Welt, der Sowjetunion, in 15 Einzelstaaten ist – ein Maximum
nicht nur an Verletzung, sondern an vollständiger Zerstörung der territorialen
Integrität eines Landes. Die am 24. August 1991 vom Kiewer Parlament
verabschiedete Unabhängigkeitserklärung der Ukraine war, so wie sie ablief, im
Sinne der sowjetischen Gesetzgebung illegal. Ebenso illegal übrigens wie die
einseitigen Unabhängigkeitserklärungen aller anderen Sowjetrepubliken, mit
denen Litauen am 11. März 1990 den Anfang gemacht hatte.
In den meisten westlichen Demokratien würden vergleichbare Akte nach dem
Strafgesetzbuch als Hochverrat behandelt. Die USA haben im 19. Jahrhundert
vier Jahre lang, von 1861 bis 1865, den für ihre Bevölkerung furchtbarsten
Krieg ihrer Geschichte geführt, um die Loslösung der Südstaaten zu verhindern. Aber
in allen sowjetischen Verfassungen seit Bildung der UdSSR im Dezember 1922 war
das Recht der Republiken auf Austritt aus der Union garantiert. Das
entsprach Lenins in der KPdSU und in der internationalen kommunistischen
Weltbewegung durchaus nicht unumstrittenem Prinzip des »Rechts auf
Lostrennung«. In der zuletzt gültigen Verfassung von 1977 war dies der Artikel
72. Er lautete ganz knapp: »Jede Unionsrepublik behält das Recht, sich frei von
der UdSSR zu trennen.«
Bis zur großen Auflösungskrise der Sowjetunion, die Ende der 1980er Jahre
begann, hatte dieser Verfassungsgrundsatz selbstverständlich keine Bedeutung
gehabt. Folglich gab es auch keine Gesetze oder andere Bestimmungen, die die
Modalitäten eines Austritts aus dem Unionsverband regelten.
Am 24. Februar 1990 fanden in der Sowjetrepublik Litauen erstmals in der
Geschichte der UdSSR Wahlen mit frei konkurrierenden Parteien statt. Aus ihnen
ging die konservative Volksfront mit absoluter Mehrheit als Siegerin hervor.
Der Parteivorsitzende Vytautas Landsbergis kündigte daraufhin sofort die
Ausrufung der staatlichen Unabhängigkeit »in diesem Frühjahr« an. Drei Tage
später befasste sich der Oberste Sowjet der UdSSR erstmals mit einem Gesetz,
das der Form nach die Austrittsbedingungen definieren, in der Praxis allerdings
einen Austritt unmöglich machen sollte. Am 3. April 1990, drei Wochen nach der
litauischen Unabhängigkeitserklärung, wurde das Gesetz im gleichen Gremium
verabschiedet.
Nach dem von nun an geltenden Recht musste auf dem Weg zur Unabhängigkeit
zunächst eine Volksabstimmung stattfinden. Dabei mussten sich mindestens drei
Viertel der wahlberechtigten Bevölkerung für die Trennung von der Sowjetunion
entscheiden. Falls die geforderte Mehrheit zustande kam, trat eine
»Übergangsphase« von fünf Jahren ein. Nach deren Ablauf reichte ein Zehntel der
Wahlberechtigten, um eine zweite Abstimmung zu erzwingen. Die letzte
Entscheidungskompetenz sollte schließlich beim Kongress der Volksdeputierten
der UdSSR liegen.
Das Gesetz sah als zusätzliche Hürde einen »Vermögens- und Finanzausgleich«
vor. In der Praxis hätte das bedeutet, dass auf eine austrittswillige Republik
möglicherweise hohe Geldforderungen der Moskauer Zentrale zugekommen wären, die
unter Umständen ihre Zahlungsfähigkeit bei weitem überschritten hätten.
Das Gesetz bestimmt außerdem, dass die Ergebnisse eines Unabhängigkeitsreferendums
in den Autonomen Republiken und Gebieten, aber auch in allen anderen Regionen
mit vorherrschender nationaler Minderheit gesondert gewertet werden sollten.
Das bedeutete: Die Bevölkerung solcher Gebiete konnte sich dafür entscheiden,
sich von einer Republik, die den Unionsverband verlassen wollte, ihrerseits zu
trennen und weiter der UdSSR anzugehören. Tatsächlich nahmen beispielsweise die
Abchasen und Südosseten dieses Recht für sich in Anspruch, als sich Georgien am
9. April 1991 einseitig und ungesetzlich für unabhängig erklärte. Aber weder in
diesem Fall noch in irgendeinem anderen wurde das im April 1990 verabschiedete
Gesetz angewendet und durchgesetzt.
GUS-Gründung
nicht legitimiert
Am 17. März 1991 fand in der gesamten UdSSR ein
Referendum über die Beibehaltung der Union »in reformierter Form« – ein nicht
ausreichend definierter Begriff – statt. Eine deutliche Mehrheit von 76,4
Prozent votierte für den Fortbestand der staatlichen Einheit. Die
Regierungen der drei baltischen Republiken verweigerten und verhinderten auf
ihren Territorien widerrechtlich die Durchführung der Abstimmung.
Aber für die Rettung der Sowjetunion war es ohnehin schon zu spät. Ein
dilettantischer und programmloser Putsch in Moskau, der am 19. August 1991 in
Szene gesetzt wurde und drei Tage später zusammenbrach, ohne dass es zu
militärischen Konfrontationen gekommen wäre, verstärkte die
Auflösungserscheinungen noch weiter. Am 7. und 8. Dezember 1991 trafen sich
die Präsidenten Rußlands, der Ukraine und von Belarus, Boris Jelzin, Leonid
Krawtschuk und Stanislau Schuschkewitsch, und unterzeichneten die Ȇbereinkunft
von Belowesch« – so benannt nach dem Tagungsort in einem belorussischen
Nationalpark und Jagdgebiet. In diesem Papier – angeblich das Ergebnis eines
mehrstündigen Saufgelages – wurde die Auflösung der Sowjetunion verkündet
und zugleich zur Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)
aufgerufen.
Es ist offensichtlich, dass es sich bei der »Übereinkunft von Beloschew« nicht
um einen demokratisch und rechtlich legitimierten Akt handelte. Er gab aber, da
es sich um die Oberhäupter der drei mit Abstand wichtigsten Republiken der
Union handelte, den weiteren Kurs zwingend vor. Am 12. Dezember
»ratifizierte« der Oberste Sowjet der Russischen Föderativen Sowjetrepublik den
Drei-Männer-Pakt, wozu er gleichfalls nicht berechtigt war. Gleichzeitig
wurden die russischen Delegierten – auch das widerrechtlich – aus dem Obersten Sowjet der Union abgezogen,
wodurch dieses Gremium nicht mehr handlungsfähig war. Am 21. Dezember
unterzeichneten Vertreter von elf ehemaligen Sowjetrepubliken – es fehlten die
drei baltischen Staaten und Georgien – die offizielle Gründungserklärung der
GUS. Damit, so hieß es dort, höre die UdSSR auf zu existieren. Ein landesweites
Referendum über die Auflösung der Union, wie es nach dem Gesetz vom April 1990
zwingend erforderlich gewesen wäre, fand nicht statt.
Zum damaligen Zeitpunkt hatte die UdSSR annähernd 300 Millionen Einwohner.
Ungefähr die Hälfte davon waren Russen. Durch die Auflösung der Sowjetunion
wurden in den neu entstandenen Staaten etwa ein Sechstel von ihnen, 25
Millionen Menschen, mit einem Schlag zu Ausländern. Die Gesamtzahl der
Sowjetbürger, die außerhalb ihres eigenen nationalen Territoriums –
Unionsrepubliken, autonome Republiken und Bezirke – lebten, wurde in den
letzten Jahren der UdSSR mit einem knappen Fünftel der Gesamtbevölkerung
angegeben, damals rund 55 Millionen Menschen.
Aus dem rasanten Zerfall der Union innerhalb ganz weniger Jahre und schließlich
ihrer Auflösung ergaben sich zahlreiche und vielfältige Probleme der
Minderheitenrechte, der Grenzziehung sowie auch der
Selbstbestimmungsforderungen von Ethnien, die sich entweder einem anderen Staat
anschließen wollten oder volle Selbständigkeit beanspruchten. Noch im August
1991 hatte Boris Jelzin davon gesprochen, dass beim Ausscheiden einzelner
Republiken aus dem Unionsverband selbstverständlich über die Grenzen neu
verhandelt werden müsse. Davon war bei der Liquidierung der UdSSR jedoch nicht
mehr die Rede. Die bisherigen Verwaltungsgrenzen der Sowjetunion wurden ohne
jede Veränderung zu Staatsgrenzen. Diese trennten plötzlich Ethnien wie
beispielsweise die in Rußland lebenden Nordosseten von den Südosseten, die
wider Willen zu georgischen Staatsbürgern gemacht werden sollten.
Errichtung
des Staates Ukraine
Die Mehrheit der sogenannten Titularnationen der 15
Sowjetrepubliken hatte vor dem Zusammenbruch des Zarenreichs nie einen eigenen
Nationalstaat besessen, existierte also auch nicht in geschichtlich begründeten
Grenzen. Die Ukraine ist dafür ein anschauliches Beispiel. Ihr heutiges
Staatsgebiet hatte jahrhundertelang unter verschiedenen, miteinander
rivalisierenden Fremdherrschaften gestanden und niemals eine Einheit gebildet.
Der erste unabhängige ukrainische Staat wurde am 22. Januar 1918, im letzten
Jahr des ersten Weltkrieges, proklamiert und war mehr oder weniger ein Geschöpf
des deutschen Generalstabs. Im Osten und im Zentrum der heutigen Ukraine,
einschließlich der Hauptstadt Kiew, hatten zu dieser Zeit die Truppen der
Bolschewiki die Oberhand. Vor diesem Hintergrund diente sich die Ukraine den
sogenannten Mittelmächten Deutsches Reich und Österreich-Ungarn an und schloss
mit ihnen am 9. Februar 1918 das erste Abkommen von Brest-Litowsk. Im Tausch
gegen Lebensmittellieferungen, die die Mittelmächte dringend benötigten,
marschierten ihre Truppen in die Ukraine ein und drangen von dort aus weit nach
Osten vor.
Am 1. März 1918 eroberten die Deutschen Kiew, und am 3. März unterzeichnete die
Regierung der Bolschewiki das zweite Abkommen von Brest-Litowsk, das ein reiner
Diktatvertrag war – ein »Raubfrieden«, wie man es später in der Sowjetunion
nannte. Rußland beendete endgültig seine Beteiligung am Weltkrieg – was den
Mittelmächten noch einmal ein paar Monate Spielraum an der Westfront
verschaffte –, verzichtete gezwungenermaßen auf etwa ein Viertel seines
Territoriums und erkannte in diesem Zusammenhang auch die Unabhängigkeit der
Ukraine an.
Deren Westteil wurde allerdings nach der Kriegsniederlage der Mittelmächte von
Polen erobert. Die Ukraine verdankt ihre gegenwärtige Gestalt erst dem geheimen
Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag, der von den
Außenministern Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow am 24. August
1939 unterzeichnet wurde. Mit dem Zusatzprotokoll gab das Deutsche Reich unter
Hitler der Sowjetunion grünes Licht für die Annexion der drei baltischen
Staaten, Ostpolens und eines Teils von Rumänien. Es handelte sich dabei
ausschließlich um Gebiete, die bis zum Ersten Weltkrieg zum Zarenreich gehört
hatten.
Am 19. Februar 1954 wurde das Territorium der Ukrainischen Sowjetrepublik um
die mehrheitlich von Russen bewohnte Halbinsel Krim erweitert. Sie war bis
dahin Teil der Russischen Föderativen Sowjetrepublik gewesen, und es gab
keinerlei sachliche oder geschichtliche Gründe, daran etwas zu ändern. Wenn
dieser Akt auch durch ein Dekret des Obersten Unionssowjets formal abgesegnet
wurde, handelte es sich dennoch um ein Geschenk des aus der Ukraine stammenden
KPdSU-Chefs Nikita Chruschtschow. Äußerer Anlass war der 300. Jahrestag des
Vertrags von Perejaslaw, mit dem die Saporoger Kosaken ihren Anschluß an
Rußland erklärt hatten. Sie brachten einen relativ kleinen Teil der Ukraine
östlich des Dnjepr, zu dem allerdings die heutige Hauptstadt Kiew gehörte, mit.
Der Vertrag von Perejaslaw gilt in der russischen Geschichtsschreibung als
Beginn der Vereinigung der Ukraine mit Rußland. Die Krim kam allerdings erst
1783 dazu.
Status
der Krim
Es zeigte sich schon sehr bald, dass es nach der
Auflösung der UdSSR Probleme mit der Zugehörigkeit der Halbinsel zur Ukraine
geben könnte. Am 26. Februar 1992 proklamierte das Parlament der Krim die
Autonomie oder Selbständigkeit als Republik, verabschiedete eine neue
Verfassung und setzte zur Bestätigung dieser Entscheidungen ein Referendum auf
den 2. August 1992 an. Am 19. Mai desselben Jahres widerrief das Krim-Parlament
jedoch die Unabhängigkeitserklärung und sagte das Referendum ab. Zwei Wochen zuvor hatte die regionale
Volksvertretung in die neue Verfassung einen Satz eingefügt, der die
Zugehörigkeit zur Ukraine bestätigte.
Es liegt nahe, hinter dem erstaunlichen Meinungsumschwung der Parlamentarier
eine direkte Einflussnahme der russischen Regierung zu vermuten. Unter Führung
des außenpolitisch schwachen Präsidenten Jelzin war Rußland bemüht, sowohl
größere Konflikte mit dem Westen zu vermeiden, als auch die offen gebliebenen
Fragen mit der Ukraine gütlich zu lösen. Ganz oben auf der Prioritätenliste
standen die Aufteilung der Schwarzmeerflotte unter den beiden Staaten, die
langfristige Sicherung des Flottenstützpunkts Sewastopol auf der Krim, und –
wohl am dringlichsten und brisantesten – die nukleare Abrüstung der Ukraine.
Zum Zeitpunkt der Auflösung der Sowjetunion hatte sich auf ukrainischem Boden
ein stattliches Arsenal von 176 Langstreckenraketen und 42 strategischen
Bombern mit über 1800 Atomsprengköpfen befunden. Damit wäre die Ukraine nach
den USA und Rußland die drittstärkste Atommacht der Welt gewesen.
Grundsätzlich bestand Einigkeit auch mit dem Westen, dass alle in der Ukraine
stationierten Nuklearwaffen zur Verschrottung nach Rußland geschafft werden
sollten. Trotzdem zögerte das Parlament in Kiew die endgültige Entscheidung und
Durchführung immer wieder hinaus. Teils vermutlich, um die
Entschädigungszahlungen der USA – insgesamt mehr als eine halbe Milliarde
Dollar – in die Höhe zu treiben. Teils aber auch als Faustpfand in den
Verhandlungen mit Rußland. Manche Nationalisten plädierten sogar dafür, die
Nuklearwaffen dauerhaft zu behalten. In dieser Tradition gibt es gegenwärtig
Stimmen, die fordern, dass die Ukraine wieder Atommacht werden müssen. Vor dem
Hintergrund der damaligen Konfrontation ist das Budapester Memorandum vom 5.
Dezember 1994 zu sehen, das regelmäßig als Hauptargument dafür angeführt wird, dass
Rußland die ukrainischen Grenzen anerkannt habe und sie daher heute nicht
in Frage stellen dürfe. In dem von Vertretern der USA, Großbritanniens,
Rußlands und der Ukraine am Rande einer KSZE-Konferenz unterzeichneten Dokument
steht in der Tat, dass die Kiewer Regierung zugesagt habe, in einer
bestimmten Zeit alle Atomwaffen vom Boden der Ukraine entfernen zu lassen, und
dass Rußland andererseits »seine Verpflichtung bestätigt« habe, »die
Unabhängigkeit und Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine zu
respektieren«.
Dazu ist allerdings festzustellen: Erstens hat Rußland diese Erklärung nicht
ganz freiwillig abgegeben, sondern wurde genötigt durch die drohende
Alternative, dass anderenfalls sich die Ukraine vielleicht als Atomwaffenstaat
etabliert hätte. Das wollten auch
die USA unbedingt vermeiden und drängten deshalb den schwachen Jelzin zu
Zugeständnissen an Kiew. Zweitens: Rußland hat diese Zusage im Vertrauen auf
zwei wesentliche Voraussetzungen unterschrieben. Das war zum einen das mündlich
gegebene Versprechen westlicher Politiker, dass eine Ausdehnung der NATO in
den Bereich des 1991 aufgelösten Warschauer Paktes und insbesondere auf das
Gebiet der früheren Sowjetunion nicht beabsichtigt sei. Und das war
außerdem der Fortbestand einer verlässlichen und stabilen ukrainischen
Innenpolitik, die ein gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben mit der
zahlenmäßig großen russischen Minderheit – ungefähr ein Fünftel der
ukrainischen Bevölkerung – auf lange Zeit möglich machen würde.
Von beiden Voraussetzungen kann gegenwärtig nicht ausgegangen werden. Rußland
wäre daher grundsätzlich im Recht, wenn es seine vor fast 20 Jahren gegebenen
Zusagen im Licht der heutigen Verhältnisse überprüfen würde. Ob es das aber
wirklich tun wird, ist eine Frage politischer Abwägungen und Zweckmäßigkeiten.
Knut Mellenthin schrieb zuletzt am 21.2.2014 auf diesen Seiten über die
Verhandlungen zum Atomprogramm Irans
http://www.jungewelt.de/2014/03-19/041.php