Die Ukraine -  ein weltpolitischer Lackmustest

von German Foreign Policy am 7.5.14

 

BERLIN/WASHINGTON

(Eigener Bericht) - Transatlantisch orientierte Kreise warnen vor globalen Machteinbußen des westlichen Kriegsbündnisses und dringen für den Kampf um die Ukraine auf einen engeren Schulterschluss der NATO-Staaten gegen Russland.

 Dass das Kiewer Marionettenregime die Herrschaft über die Krim verloren habe, habe unter Verbündeten des Westens weltweit Befürchtungen ausgelöst, die Unterstützung der USA und der NATO reiche im Ernstfall nicht zur Durchsetzung der eigenen Interessen aus, heißt es in Presseberichten. Die weltweite Hegemonie des Westens bekomme dadurch Risse. So hätten bei der jüngsten Asienreise des US-Präsidenten Vertreter der Gastgeberstaaten immer wieder besorgte Zweifel geäußert, ob Washington sie bei ihren Territorialstreitigkeiten mit Beijing verlässlich unterstützen könne. In der Tat hat die Regierung Obama sich unlängst veranlasst gesehen, mit martialischen Militärdrohungen gegen China für den Fall, dass Beijing sich den westlichen Ordnungsvorstellungen in Ost- und in Südostasien nicht beugen sollte, seine Macht zu demonstrieren. NATO-Manöver in Osteuropa und brutale Schritte des Kiewer Marionettenregimes sollen nun zeigen, was Kräften droht, die sich dem transatlantischen Diktat nicht beugen.

Berlin müsse seine Sonderbeziehungen zu Russland opfern und sich mit voller Energie in die NATO-Front einreihen, um den Westen zu stärken, heißt es in Leitkommentaren führender deutscher Medien.

 

Gegenschlag gegen Russland

 

Dass das aggressive Vorgehen zumindest der Vereinigten Staaten in der Ukraine weniger durch die Verhältnisse im Land denn vielmehr durch übergeordnete weltpolitische Überlegungen motiviert ist, hat schon im Dezember 2013 der als geheimdienstnah geltende US-Dienst Stratfor bekräftigt.

"Moskau hat Washington zuletzt wiederholt diplomatisch ausmanövriert, unter anderem im Hinblick auf Syrien und die Affäre um Edward Snowden", hieß es damals in einer Stratfor-Analyse. Washington werde sich das nicht gefallen lassen. Tatsächlich wäre Vergleichbares vor zehn Jahren, als die USA sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht befanden, noch unvorstellbar gewesen: Weltweite Widerstände konnten die Bush-Administration nicht vom Überfall auf den Irak abhalten; Moskau musste machtlos mit ansehen, wie der Westen 2003 und 2004 in Georgien und in der Ukraine Umstürze zugunsten prowestlicher Regierungen vorantrieb. Ein Wendepunkt kam erst 2008, als es Russland gelang, Aggressionen Georgiens zurückzuschlagen und separatistischen Kräften in den georgischen Regionen Abchasien und Süd-Ossetien zum Erfolg zu verhelfen - gegen den Westen. Weitere russische Erfolge wollten die USA nun unbedingt verhindern, um die weitere Schwächung ihrer weltpolitischen Machtstellung zu vermeiden, urteilte Stratfor Ende 2013: "US-Unterstützung für die Protestbewegungen in der Ukraine ist ein Mittel, um Russlands Aufmerksamkeit auf seine Region zu beschränken".[1]

 

"Wo ist der Weltpolizist?"

 

Befürworter einer globalen Dominanz des transatlantischen Kriegsbündnisses sehen ihre Position wegen der anhaltenden Widerstände in der Ost- und Südukraine gegen das Kiewer Umsturzregime und wegen der Übernahme der Krim durch Russland nun noch weiter geschwächt. Transatlantisch orientierte Medien sprechen mit Blick auf das Scheitern der geplanten Total-Übernahme der Ukraine durch den Westen von einem "Niedergang der amerikanischen Abschreckungsfähigkeit". "Wo ist der Weltpolizist?", heißt es beispielsweise im britischen "Economist" angesichts des Scheiterns der NATO beim Bestreben, Russland an der Übernahme der Krim zu hindern: "Wofür würde Amerika denn nun tatsächlich kämpfen?"[2]

Dass Washington den geplanten Überfall auf Syrien nicht habe durchführen können und dass das Kiewer Marionettenregime die Krim habe preisgeben müssen, vermittle eine "kumulierte Botschaft": "Schwäche", heißt es weiter in dem Blatt.[3] Darunter könne die Dominanz des Westens auch in anderen Weltgegenden leiden.

 

Irritationen und Zweifel

 

Die Vermutungen bewahrheiten sich inzwischen in ersten Ansätzen - dort, wo Washington für die kommende Zeit seinen weltpolitischen Schwerpunkt zu setzen gedenkt: in Ost- und Südostasien im Hegemonialkampf gegen die Volksrepublik China. Dies bestätigen Berichte, die letzte Woche die Asien-Reise des US-Präsidenten begleiteten. Mitarbeiter südkoreanischer Regierungsstellen, hieß es, hätten bereits im September ernste Irritationen erkennen lassen; sie hätten den US-Verzicht auf einen Überfall auf Syrien als Niederlage der NATO-Staaten gegen Russland interpretiert und daraus den Schluss gezogen, die Vereinigten Staaten seien nicht mehr in der Lage, ihre außenpolitischen Ziele in jedem Fall zuverlässig zu realisieren.

Bei Obamas aktueller Asien-Reise, heißt es weiter, hätten die Ereignisse in der Ukraine überall für Diskussionen gesorgt; die engsten US-Verbündeten hätten berichtet, in ihrer Region gelte der Machtkampf um die Krim als Lackmustest, wie wirksam Washingtons Hilfe im Falle des Territorialstreits einiger US-Partner mit Beijing um Inseln und Inselgruppen im Ost- und im Südchinesischen Meer sei. Die Verbündeten der USA in der Region seien "besorgt", lassen sich Mitarbeiter von US-Regierungsstellen zitieren: Man bezweifle, dass die NATO heute noch, wie es Washington hochtrabend angekündigt habe, die Territorialansprüche etwa Japans, Südkoreas, der Philippinen oder Vietnams gegen China auch wirklich durchsetzen könne.[4]

 

Militärische Drohgebärden

 

Washington reagiert in Asien derzeit mit einer Doppelstrategie. Zum einen betont die Obama-Administration, die USA unterhielten keinen Verteidigungspakt mit der Ukraine; welchen Beistand Japan, Südkorea und die Philippinen hingegen, die jeweils ein Verteidigungsabkommen mit den Vereinigten Staaten geschlossen haben, im Streit mit China erwarten könnten, das sei nicht der Niederlage im Kampf um die Krim, wohl aber den NATO-Manövern in Polen und den Baltischen Staaten zu entnehmen. Zum anderen verschärft Washington seine militärische Drohpolitik gegenüber Beijing. Wie es in Berichten heißt, die offenkundig gezielt aus Regierungsstellen gespeist wurden, hat das U.S. Pacific Command in Hawaii neue Szenarien erarbeitet, mit denen es auf nicht näher definierte Aktivitäten Chinas, die als "Provokationen" bezeichnet werden, zu reagieren gedenkt. In Betracht kämen demonstrative Flugeinsätze von B2-Bombern unweit des chinesischen Territoriums oder Manöver von Flugzeugträgern (!) vor der chinesischen Küste, heißt es; auch könne die U.S. Navy ihre Besuche in Häfen ihrer ost- und südostasiatischen Verbündeten massiv ausweiten. Man bereite sich auf alles vor, heißt es in US-Militärkreisen - "von humanitärer Hilfe über Unterstützung bei Naturkatastrophen bis hin zu umfassenden Kampfeinsätzen".[5] US-Außenminister John Kerry habe im Februar Beijing besucht und ausdrücklich darauf hingewiesen, man werde "einseitige Schritte" Chinas nicht dulden.

Modell Kalter Krieg

Gleichzeitig demonstrieren die NATO-Staaten und ihr ukrainisches Marionettenregime, was diejenigen erwartet, die sich westlichen Forderungen zu entziehen suchen.

 

Die Maßnahmen reichen von NATO-Manövern über die Ankündigung Kiews, der Krim die Trinkwasserzufuhr abzudrehen, bis zur faktischen Tolerierung von Gewaltorgien unter Beteiligung faschistischer Milizen wie jüngst in Odessa.

 

Dabei dringen transatlantische Kreise auch in Deutschland mit beispielloser Wucht auf einen engen Schulterschluss im Rahmen der NATO - nach dem Modell des Kalten Kriegs (german-foreign-policy.com berichtete [6]).

 

Ende der Sonderbeziehungen

 

Vor diesem Hintergrund rufen führende deutsche Medien dazu auf, die Berliner Sonderbeziehungen zu Moskau zugunsten einer Stärkung des transatlantischen Kriegsbündnisses preiszugeben.

 

 "Die von Berlin angestrebte künftige Weltordnung ist eine multipolare, in der die EU mit Russland wirtschaftlich eng verwoben ist, um mit den globalen Mächten Amerika und China auf dem Weltmarkt führen zu können",

 

 hieß es zu Wochenbeginn in einer führenden deutschen Zeitung über die deutsche Politik der letzten Jahre. Aus diesem Grund habe die Regierung Merkel etwa in der Euro-Krise "angelsächsische Ratschläge, Eurobonds einzuführen, aus(geschlagen) und lieber auf Stützungskäufe der Chinesen und Russen" gesetzt. Angesichts der russischen Widerständigkeiten in puncto Ukraine müsse dieses Modell als gescheitert gelten:

 

"Es wäre ein schwerer Fehler, Moskau weiter nachzulaufen."[7] Das Blatt dringt - ganz wie weitere, transatlantisch geprägte deutsche Leitmedien - darauf, sich erneut und ohne alle Vorbehalte unter dem Dach der NATO zu sammeln.